Je gestresster wir sind, desto mehr empfinden das Sein des Kindes als Trödeln.
Mein Vater (89) sagt: „Je älter ich werde, desto mehr rast die Zeit.“Menschen empfinden das so, weil das Jetzt, das sie erleben, so kurz erscheint im Verhältnis zu all dem, was sie schon erlebt haben.
Bei einem Kind ist es genau umgekehrt. Weil alles noch vor ihm liegt, kann sich der Moment zu einer köstlichen Ewigkeit dehnen. Aber es macht sich sowieso keine Gedanken über die Zukunft. Kinder leben im Jetzt.
Erwachsene vergessen immer wieder, dass Kinder noch keinen linearen Zeitbegriff haben. Erst mit ungefähr neun Jahren ist ein Kind dazu fähig vorherzusagen, wie viel Zeit eine Handlung beanspruchen wird (Jean Piaget: Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, Zürich 1955).
Wenn ich einem Vierjährigen sage, dass ich in drei Stunden wieder da bin, hat er keine Vorstellung davon, wie lange das ist. Deshalb machen wir es anschaulich: „Wenn der kleine, dicke Zeiger auf der Zwölf ist und der lange, dünne Zeiger …“ – „Wenn ich meine Mails gecheckt und die Kartoffeln geschält habe, gehen wir einkaufen.“
Ein Kind wird heftig bestreiten, dass die halbe Stunde mit seinem Freund in der Matschpfütze genauso lang gedauert haben soll wie die halbe Stunde, als es gewartet hat, bis Oma mit dem Geburtstagsgeschenk kam.
Für ein Kind ist ein großer Stein älter als der kleine Stein, der daneben liegt.
Im Garten sein dürfen, ohne dass der nächste Termin ruft.
Freunde erzählten uns, dass ihre kleine Tochter sehr wütend auf ihre Eltern war. Sie stemmte ihre Hände in die Taille, stampfte mit dem Fuß auf und brüllte: „Ich ziehe hier aus. Morgen, wenn nicht schon übermorgen.“
Die verstorbene Management-Trainerin Vera F. Birkenbihl pflegte die Teilnehmer ihrer Seminare aufzufordern, die Zeit zu malen. Über 80 Prozent der Erwachsenen zeichneten einen Pfeil, ganz wenige einen Punkt. Die Zeit, die eher ein Punkt ist, ein Augenblick, in dem man erfüllt ist von dem, was man gerade tut, bezeichneten die alten Griechen als „Kairos“.
Das Leben von Kindern besteht – wenn man sie lässt – aus „Kairos“-Zeit.
Wir Großen müssen es erst wieder mühsam lernen.
Als unsere Kinder im Teenager-Alter waren, probierte ich es aus, jeden Mittag 20 Minuten lang nichts zu tun. Ich sagte ihnen: „Und wenn der Papst anruft, ihr stört mich nicht!“ Ich schloss die Schlafzimmertür*, setzte mich auf mein Bett und schaute den Schrank an. Tausend Gedanken stürmten durch mein Hirn, aber ich stellte mir vor, dass ich hinter einem Wasserfall in einer Höhle säße und ich alles, was durch meinen Kopf geisterte, den Wasserfall nach unten schickte.*
Manchmal nickte ich ein in diesen 20 Minuten und wurde von der Piepsuhr aus dem Dämmerzustand gerissen. Aber meistens entstand so ein wattiges Gefühl. Auf jeden Fall fühlte ich mich danach erfrischt und klarer ausgerichtet. Ich krempelte die Ärmel hoch und arbeitete mit mehr Freude und effektiver.
„Nur wenn der Lärm des Denkens abebbt und sich genügend Stille in uns ausbreitet, erkennen wir, dass eine verborgene Harmonie da ist, eine Heiligkeit, eine höhere Ordnung, in der alles seinen perfekten Platz hat …“
Eckhart Tolle
aus seinem Buch „Eine neue Erde“, München 2005, S. 205
Zunächst wollte ich euch hier Tipps geben, wie ihr damit umgehen könnt, wenn Kinder trödeln. (Je stärker wir Erwachsenen eingebunden sind, desto mehr werten wir das, was Kinder tun, als „Trödeln“ ab.) Ich dachte an Tricks wie ‚wir machen ein Anzieh-Wettrennen‘ oder ‚wir spielen Feuerwehr und wir müssen schnell in den Kindergarten, weil es dort brennt‘. Aber dann war es mir zu blöd, dazu beizutragen, dass schon Dreijährige reibungslos funktionieren.
Ich wünsche mir,
- dass Kindern nicht das „Kairos“-Leben ausgetrieben wird
- dass ihre Eltern immer wieder Stunden oder Tage einschieben können, wo sie und die Kinder einfach in den Tag leben können
- dass Eltern verstehen, dass freies Spiel (besonders im Vorschulalter) deutlich lehrreicher ist als das, was wir Erwachsenen unter Lernen verstehen
Der Kronprinz (damals 16) meinte übrigens, der Papst ließe ausrichten, er werde später noch einmal anrufen.
Immer mal fröhlich nichts machen.
Eure Uta
* Man kann sich auch in der Mittagspause auf eine Parkbank setzen und einen Baum anschauen oder die Bürotür abschließen und in das Licht einer Kerze sehen.
** Diese Idee stammt aus dem wunderbaren Buch „Enjoy your life“ von Martha Beck.
Die Fotos dieses Beitrags sind von Allan Mas von Pexels. Vielen Dank!
Liebe Uta,
ähnlich war damals unser Grund, die Kinder nicht ganztags in den Kindergarten und in die Grundschule zu schicken. Natürlich hätten sie da viele Kinder zum Spielen gehabt, aber ebenso auch immer Erwachsene, die entscheiden, was „wir“ jetzt tun. (So, wir gehen jetzt alle in den Hof. So, wir waschen uns jetzt alle die Hände. usw.) Einfach mal spielen, bis es Abendessen gibt, das ist so schön. Mittlerweile hat zumindest das große Kind mehrere Nachmittagstermine, manche frei gewählt, manche verpflichtend, aber mehr muss es dann vielleicht auch nicht werden.
Danke fürs nochmal Erinnern und lustig, was du eigentlich erst schreiben wolltest und was draus geworden ist.
Liebe Grüße
Dana
Liebe Dana, danke für deinen Kommentar! Ja, das ist der Punkt: Da sind immer Erwachsene, „die entscheiden, was ‚wir‘ jetzt tun“. Schön, dass ihr für euch einen guten Weg gefunden habt. Ich bin einfach selbst ein Mensch, der Zeit für sich allein braucht, so dass ich die Vorstellung, den ganzen Tag in eine Gruppe eingebunden zu sein, gruselig finde. Herzliche Grüße, Uta
Genau, man darf ja auch Folgendes nicht vergessen: ich als Mama mag es vielleicht sehr, mich mit vielen Menschen zu umgeben – für mein Kind muss das nicht unbedingt gelten. Jeder ist verschieden und zieht seine Kraft aus anderen Dingen. Bei unseren Kindern merke ich da ganz klar einen Wechsel zwischen gemeinsam spielen und Rückzug mit Buch in der Hand. Herrlich!
Liebe Anke, ja, jeder zieht seine Kraft aus anderen Dingen. Bei mir ist es gerade meditatives Laub-Fegen 😊.
Liebe Uta, und wieder lese ich deinen Blog mit Gewinn – vielen Dank! Ich unterstreiche absolut wie großartig und wichtig das freie Spiel ist: „Jeder, der zwischen Spielen und Lernen unterscheidet, hat von beidem keine Ahnung.“, sagt Marshall McLuhan treffend.
Trotzdem möchte ich als Zirkuspädagogin auch eine Lanze für die (ja, wohldosierte) pädagogische Begleitung brechen. Auch da kann ich ein Umfeld schaffen, das anregend ist und gleichzeitig Freiräume lässt. Das lässt Raum für viel Individualität, Spaß und Begeisterung – denn damit lernt sich’s so oder so am besten. Herzliche Grüße, Marion
Liebe Marion, danke, dass du mich an Marshall McLuhan erinnerst. Mit dem klugen Mann hatte ich im Studium mehrfach zu tun.
Und ja … in einem Zirkus mitwirken zu dürfen, ist natürlich großartig. „Zirkuspädagogin“ – was für ein toller Beruf! Danke für deinen Kommentar! LG Uta