Zeit für Zärtlichkeit 

 28/09/2017

Vieles entspannt sich im Umgang mit Kindern, wenn wir für mehr Körperkontakt sorgen.

Ich gebe zu: es ist mir manchmal peinlich, wenn unsere großen Kinder (16 und 19) immer noch gekratzt oder gestreichelt werden wollen, besonders wenn andere Menschen (die Großeltern oder gute Freunde) dabei sind. Oder auch beim Fernsehen auf dem Sofa: Socke aus und der Fuß wird massiert. Ich hielt es schon für einen familiären Spleen, habe aber jetzt gelesen, wie sehr wir unseren Kindern etwas Gutes damit tun.
In Steve Biddulphs Buch  „Das Geheimnis glücklicher Kinder“ gibt es eine Grafik (Seite 50), die einen erschreckenden Mangel an Körperkontakt besonders bei Teenagern aufzeigt. Als Babys wurden sie geknuddelt, man hat mit ihnen geschmust und sie herum getragen. Dann folgt der erste schwere Einbruch in der „Menge-an-Körper-Kontakt“-Kurve, sobald ein Geschwisterkind geboren wird. Jetzt knuddeln alle das kleinere Kind und der oder die Große muss vernünftig sein, soll Bücher oder Filme anschauen und sich selber kratzen. Der rapide Absturz in der Häufigkeit von Hautkontakten findet seinen Tiefpunkt mit 13 oder 14 Jahren und hält sich konstant in diesem Jammertal, bis die erste Freundin oder der erste Freund auftaucht. Zugegeben: ein Teenager kann stachelig sein wie ein Kaktus und man könnte den Eindruck gewinnen, man dürfe als Eltern nicht mal in ihre Nähe kommen, geschweige denn sie berühren. Aber der Eindruck trügt.

„Teenager bewegen sich wie die Gezeiten. Sie kommen und gehen. In einem Augenblick sind sie noch unabhängig, im anderen wollen sie gefüttert und umsorgt werden.“ (Steve Biddulph, Das Geheimnis glücklicher Kinder. München 2001, Seite 161)

 

Mein Lieblingsbild zum Thema Körperkontakt aus dem Archiv: Prinzessin mit ihrem Papa.

Und nicht nur umsorgt, sondern auch gestreichelt, massiert oder gekratzt. Jedes Säugetier entspannt sich – meines Wissens – sofort, wenn es von geliebten Artgenossen berührt wird. Und mir war nie klar, dass gerade Teenager eine solche Zeit der Liebkosungs-Dürre erleben müssen. Denn Erwachsene in Partnerschaft erfahren – zumindest in den ersten Monaten oder Jahren der Beziehung – fast wieder so viel Zärtlichkeit wie ein Baby. Allerdings nur die Seligen, die in einer erfüllten Beziehung leben. Denn Biddulph schreibt auch von einer Sehnsucht der Großen nach Hautkontakt:

„Ich habe einmal bei einem Vortrag vor etwa 60 Erwachsenen die Anwesenden gebeten, die Augen zu schließen und die Hand zu heben, um anzuzeigen, ob sie täglich weniger Zärtlichkeit erhielten, als sie gerne hätten – alle Hände gingen in die Höhe.“ (ebd. Seite 53)

Eltern zerbrechen sich so sehr den Kopf über die richtige Erziehung, über Grenzen, die sie setzen wollen oder vielleicht sollten. Viele reden in einem fort auf ihre Kinder ein, dozieren wortreich, was sie tun oder lieber lassen sollten. Dabei ginge vieles leichter mit ab und zu ein wenig Zeit für Zärtlichkeit.

  • Sich unterwegs an der Hand halten.
  • Buchstaben oder Bilder auf den Rücken malen und erraten lassen.
  • Abends beim Gute-Nacht-Sagen den Arm streicheln.
  • Beim Vorlesen das Kind auf den Schoß nehmen.
  • Füße massieren.
  • Beine oder den Rücken eincremen.
  • Beim gemeinsamen Fernsehen die Haare bürsten, den Nacken kraulen, zwischen den Schulterblättern kratzen.
  • Mit Teenagern einen Film gucken und dabei die Füße massieren.
  • Verschwenderisch sein mit Umarmungen.

Das Schöne bei Berührungen ist ja, dass es wechselseitig funktioniert. Auch der, der streichelt, entspannt sich.
Immer fröhlich für Nähe sorgen.
Eure Uta
PS: Und hier geht es zum Interview „Bullerbü ist möglich“ auf FAZ-net.

  • Liebe Ute,
    dankeschön, genau der richtige Artikel für uns gerade.
    Unser Großer (11 1/2) brach gestern zusammen, dass er nicht erwachsen werden möchte, dass er Kind bleiben möchte – er findet dahingehend gar keine Ruhe.
    Wir haben mit ihm geredet, doch wahrscheinlich können wir ihn viel besser mit Kuscheln nonverbal entlasten.
    Liebe Grüße EmmA

  • Liebe Uta,
    danke!
    Manchmal ist etwas schwer abzuschätzen, wann der Kaktus zur Schmusekatze wird, aber das ist es jedes Mal wert.
    Vielleicht sollten wir uns immer wieder daran erinnern, dass – auch wenn das Kind nun „groß“ ist und scheinbar alle Reden versteht – das Wort nie die Berührung ersetzen kann, weil das Verstehen dann eine andere Ebene hat.
    Inra

  • Liebe Mum,
    genau dieser Beitrag bringt es auf den Punkt. Ich vermisse euch ganz doll. Aber am ehesten vermisse ich eure Umarmungen.
    Hab dich ganz doll lieb und viele Umarmungen!!
    Deine Prinzessin

    • Liebe Prinzessin,
      ich finde es sooo unglaublich toll, dass Du Deiner Mama hier aufm Blog solch herzliche Worte schreibst. So eine tolle Wertschätzung… oder, liebe Uta? Wie großartig!
      Dir, Prinzessin, weiter eine wunderbar-aufregende Zeit in Kanada … hab ich mir immer gewünscht und mich nie getraut!
      Liebe Grüße heute an Euch zwei!
      Dorthe

      • Liebe Dorthe,
        vielen lieben Dank und die werde ich ganz gewiss haben. Ich hatte auch Bange, dachte mir aber, dass ich das durchziehen muss. Es hat sich bis zu diesem Zeitpunkt auf jeden Fall gelohnt.
        Liebe Grüße
        Prinzessin

  • Liebe Uta,
    dankeschön – Du bringst das wieder so gut auf den Punkt! Wie groß das Bedürfnis nach körperlicher Nähe ist, konnte ich auf unserer großen Reise diesen Sommer erfahren. Es wurde umarmt und geknufft, gerangelt und im Wasser „untergeduckert“, bei Spaziergängen Hand in Hand gegangen und abends auf dem Sofa gekuschelt und gekrault. Und wie haben wir – die beiden Teenager und ich – es genossen. Und wie sehr fehlt es hier im Alltag wieder daran. danke für die Erinnerung – wir legen heute Nachmittag gleich wieder los! Liebe Grüße, Susanne

  • … ach, wie schön.
    Manchmal denke ich, ich sollte nicht mit meinem 11-jährigen Sohn an der Hand durch die Stadt laufen.
    Danke, dass ich lesen durfte, dass ich besser meinem Gefühl folge als dem Gedanken…
    Herzlichen Gruß, Antje

  • Liebe Dorthe,
    vielen lieben Dank und die werde ich ganz gewiss haben. Ich hatte auch Bange, dachte mir aber, dass ich das durchziehen muss. Es hat sich bis zu diesem Zeitpunkt auf jeden Fall gelohnt.
    Liebe Grüße
    Prinzessin

  • Das zu lesen tut gut! Ich berühre Kind und Mann ständig, und obwohl sie nicht genervt sind, denke ich manchmal, puh, vielleicht sollte ich mich mal zusammenreißen? Aber offenbar, solange es sie nicht nervt: nee.
    Die Pubertät ist bei unserem Lütten, der gerade eingeschult wurde, ja noch ein paar Tage hin, aber ich werde Deinen Artikel nicht vergessen.
    Bei uns zu Hause wurde auch immer viel gekuschelt, und ich erinnere mich immer noch daran, wie ich mal mit fünfzehn, sechzehn todtraurig im Bett lag, und dann kam meine Mutter an, setzte sich stumm neben mich, lehnte sich an die Wand und streckte die Beine neben mir aus. Und hat mir über den Kopf gestrichen. Ich bin mit dem Kopf auf ihrem Schoß eingeschlafen und habe mich unfassbar geborgen gefühlt. Besser hätte sie mir nicht helfen können, reden hätte nicht geholfen, ich hätte meine Traurigkeit ja gar nicht benennen können. Aber so hat sie mir gesagt, sie ist da, sie sieht mich, sie nimmt mich wahr, und ich bin ihr wichtig. Die Erinnerung fühlt sich heute noch an wie eine warme Wolldecke.
    Liebe Grüße
    Maike

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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