Studenten, ein Maulwurf und ein wütendes Kleinkind 

 25/11/2019

Wie man damit umgeht, wenn ein kleiner Junge weiß, welchen "Knopf" er "drücken" muss.

Am Wochenende waren alle da: mein Mann, Prinzessin sowieso und Kronprinz mit seiner Freundin. Dazu noch Besuch und im Garten ein Maulwurf, der alles aufwühlt, was wir im Spätsommer an Rasen frisch eingesät hatten. Was der Maulwurf mit dem Besuch zu tun hat, ist mir selbst nicht klar. Aber in den Einsteig sollte alles rein, was mich gerade beschäftigt.

Nun sind alle abgereist und Prinzessin ist zur Schule geradelt. Ich liebe es, dann alles aufzuräumen, die noch feuchten Duschtüscher in die Waschmaschine zu stopfen, die Zimmer zu lüften und - die Dinge ordnend - auch meine Gedanken zu sortieren. Balance ist alles, oder? Nach Trubel brauche ich Ruhe, nach Gruppen-Bummeln in der Stadt freue ich mich auf Alleinzeit zu Hause, nach großem Umtrieb in der Küche mit Kürbis-Schlachten und Scones-Backen werden wir Mädels uns heute Abend auf das Sofa lümmeln, „Queer eye“* gucken und Reste essen.

*

Jetzt mache ich von den großen Kindern einen Sprung zu den Kleinen: eine Zeitlang pflegte man zu sagen: „Das Kind will ja nur Aufmerksamkeit.“ Man kam zum Glück davon weg, jedes Verhalten auf das schlichte Buhlen um Aufmerksamkeit zurückzuführen und Kinder und ihre Signale nicht ernst zu nehmen. Nur heute haben wir das andere Extrem: mit Verhalten zu steuern und für unerwünschtes Verhalten keine Aufmerksamkeit zu geben, wird so schnell mit Liebesentzug gleich gesetzt wie unser Schilddrüsen-kranker Kater mittags seine Dose Thunfisch verschlingt.

Liebesentzug - davor haben wir Eltern alle Angst. Den meiden wir wie die Pest. Dabei gibt es durchaus Verhaltenssignale, die kein Liebesentzug sind und uns helfen, kleine Schutzbefohlene zu führen. So können wir unseren Alltag auf eine Weise gestalten, die verhindert, dass aus der ganzen Nummer mit den Kindern ein Riesen-Liebesentzug für uns selbst wird. Das beste Beispiel dafür stammt von der Schweizer Therapeutin Rita Messmer. Wenn das Klein-Kind auf meinem Schoß nicht aufhört, mir die Brille von der Nase zu reißen, setze ich es kurz auf den Boden. Ich muss nicht schimpfen oder böse sein. Kurze Zeit später kann ich es wieder hoch nehmen. Nur wenn es erneut nach den Gläsern greift, landet es wieder sanft auf dem Boden. Bald wird es das Signal verstanden haben, ohne dass ich schimpfen oder mit negativen Gefühlen Druck ausüben musste und wir können die innige Nähe genießen.

*

Am Freitag habe ich eine Mama gecoacht, die einen eher ruhigen siebenjährigen Sohn und einen Zweijährigen hat, der zu Hause alles aufmischt. Der Zwerg besteht darauf, jeden Mittag nach der Kita zu Hause die Tür aufzuschließen, auch wenn der Bruder dringend auf die Toilette muss und alles viel zu lange dauert. Bei den Schularbeiten des Großen rastet der Kleine aus, wenn er nicht auch die Schulstifte seines Bruders benutzen darf. Identische Stifte, von der Mutter nachgekauft, werden nicht akzeptiert. Fast jedes ‚Nein‘ führt zu einem Anfall mit Zerstörungswut. Er wirft dann etwas runter, beißt seinen Bruder oder tritt nach der Mama. 

Wir haben 90 Minuten intensiv gesprochen. Bekommt der Kleine genug Nähe? Hat er ausreichend Gelegenheit, sein Autonomie-Streben auszuleben? Alles ist erfüllt. Für den Zweitgeborenen hat diese Mama aufgehört zu arbeiten, während sie eineinhalb Jahre nach der Geburt des Großen wieder in den Beruf gegangen war. Sie ist jetzt sogar ganz zu Hause, nimmt sich viel Zeit für beide Kinder und geht exklusiv mit dem „Wut-Zwerg“ einmal die Woche zu einer Kinder-Turnstunde, was ihm auch sehr wohl tut, ihn aber nicht hindert, auch nach dem Turn-Nachmittag mit Mama einen Riesen-Aufstand zu machen, wenn sie ihm mit irgendeinem ‚nein‘ kommt.

Durch unser Gespräch zog sich wie ein roter Faden das Bild „good cop - bad cop“. Die Mama sieht ihre Jungs offensichtlich in der Gefahr, diese Rollen einzunehmen. Immer wieder erwähnte sie das. Klar wurde, dass sie um jeden Preis vermeiden will, dass dem Älteren die Rolle des braven Kindes zugeschrieben wird, während für den Kleinen nur noch der Part des Bösewichts übrig bleibt.
Schließlich ging ihr in unserem Gespräch auf, dass sie ihrem Jüngsten gegenüber nicht klar war und ständig über ihre eigenen Grenzen ging, um diese Rollenzuschreibung zu vermeiden. So duldet sie Verhalten, dass tatsächlich „bad“ ist (Schlagen, Beißen, Dinge absichtlich kaputt machen). Und so steuert sie ihn genau in die Rolle, die sie für ihn vermeiden wollte. Dem Kleinen war schnell klar, dass er diesen „Knopf“ jederzeit „drücken“ kann. „Ich brauche nur etwas richtig Schlimmes zu machen, dann ist Mama zu Stelle, damit ich nichts kaputt mache und ich mir nicht weh tue. Und sie sieht es als nicht wirklich schlimm an, was ich tue, weil sie mich nicht als böse abstempeln will.“ (Natürlich auf einer wenig bewussten, aber umso emotionaleren Ebene bei dem Zweijährigen.) Er bekommt permanent Aufmerksamkeit für ein unerwünschtes Verhalten, das sich dadurch verstärkt - und das tut es, ob uns diese Logik gefällt oder nicht.

Die Veränderung für diese Mama beginnt damit, ...

  • sich ihrer unglücklichen good-cop-bad-cop-Vermeidungsstrategie bewusst zu werden
  • sich klar zu machen, dass sie ihren wilden Jüngsten genauso liebt wie ihren großen Braven und dass es dieser Liebe keinen Abbruch tut, wenn sie deutlicher für ihre Grenzen einsteht (Nein, wenn es eilig ist, darf er die Haustür nicht aufschließen.)
  • sich in einer ruhigen Minute klar zu werden, in welchen Situationen der Kleine seinem Autonomie-Streben gerne nachgehen darf, und in welchen Situationen sie dazu klar ‚nein‘ sagen möchte
  • sich zu überlegen, an welchen Aufgaben der Älteren und Erwachsenen er gerne mitwirken darf und welche vielleicht zusätzlich geschaffen werden können, und was aber auf keinen Fall toleriert wird (z.B. Schulstifte des Großen beschlagnahmen)

Soweit für heute. 

Nun möchte ich noch schnell verkünden, wer den Kinder-Adventskalender „Der andere Advent“ gewonnen hat. Es ist „Busyizzy“. Herzlichen Glückwunsch! Bitte maile mir deine Post-Anschrift. 

Immer fröhlich gucken, welche „Knöpfe“ die Kinder bei uns „drücken“, und mir schreiben, wie ihr das seht mit der Aufmerksamkeit und dem Liebesentzug,

Eure Uta 

* Netflix-Serie, die wir gerade mit Begeisterung sehen. Und wups ... ist dieser Beitrag Werbung.

Zum Weiterlesen:

* Vor wenigen Monaten hatte ich schon mal über Wutausbrüche beim Kleinkind geschrieben.

* Um Ausrastet bei einem etwas älteren Kind (Vorschule) geht es in diesem Beitrag.

* Der kleine Junge aus dem Coaching hat einen großen Autonomie-Drang. Es kommt aber auch vor, dass ein Kind eher Nähe braucht und wir es nicht drängen sollten, etwas allein zu machen. Für alle, die dieses Thema betrifft, ist mein Beitrag  "Kinder brauchen keine Autonomie-Übungen."

  • Mit 2 Jahren will er ‚den Knopf der Mutter drücken‘? Das bezweifle ich. Tatsächlich klingt deine Beschreibung eher nach dem Alter 3,5, in welchem tatsächlich ein Meilenstein im Gehirn erreicht werden muss, bei dem es um natürliche Grenzen und Bedürfnisse von anderen geht. Da würde das Beispiel mit dem Türaufschließen auch alterstechnisch besser reinpassen, denn welcher 2 Jährige kann denn ernsthaft eine Tür mit dem Schlüssel aufschließen, auch wenn es noch so lange dauert? Mit 3,5 Jahren rasten Kinder tatsächlich gern aus, wenn sie nicht Erster sind, oder die Tür nicht aufmachen dürfen etc. Aber sei es drum, bleiben wir bei deinem 2-Jährigen: Es ist klar, dass die Mama die Tür aufschließen soll, wenn der Große aufs Klo muss und ebenso ist klar, dass der Große mit seinen eigenen Stiften ungestört malen darf und der Kleine da nicht zwischenfunken darf. Es ist kein Zeichen von ‚bösem‘ oder ‚manipulativem‘ Verhalten, wenn der Kleine das auch will und dann einen Wutanfall hat, wenn er das nicht darf. Der Wutanfall bedeutet doch nur ‚Verdammte Scheiße, ich wollte das so doll und nun darf ich nicht, ich finde das so mega doof, dass ich mir nicht anders zu helfen weiß, als zu schreien, zu hauen und zu beißen!‘ Er ist überwältigt von seiner Wut. Und klar muss sich Mama nicht hauen lassen etc. und sie sollte sich von dem Wutanfall auch nicht umstimmen lassen, aber Empathie kann sie doch aufbringen für den Kleinen? Bei ihm bleiben, den Wutanfall mit Mimik, Gestik und Stimmlage begleiten, vielleicht die Wut für ihn in Worte fassen und das Hauen, Beißen etc. ruhig abwehren, um sich selbst zu schützen. Damit macht sie ihn auch gedanklich nicht zum ‚bad cop‘. Er ist einfach nur ein Zweijähriger, dem etwas verwehrt wurde, der darüber wütend wurde und nicht wusste, wohin mit dieser Wut. So weit so normal. Daran ist nichts verwerflich. Ich fürchte, wenn wir anfangen, davon zu reden, dass Zweijährige genau wissen, welche Knöpfchen sie bei Mama drücken müssen (wie denn, ohne die Perspektive eines anderen einnehmen zu können?), dann kommen wir bald wieder an bei ‚will dir auf dem Kopf tanzen‘, ‚musst Grenzen setzen‘ usw. Und da waren wir doch bei den ganz kleinen Mäusen schon weiter?
    Liebe Grüße, Katja Seide

    • Liebe Katja,
      ich habe den Eindruck in unseren Köpfen ist dieses schwarz-weiß denken zu sehr verwurzelt. Entweder gehe ich auf das Kind ein (beürfnisorientiert), oder ich lasse es links liegen („schwarze Pädagogik“).
      Mir helfen die Beispiele und Erklärungen von Uta, die große Grauzone in der Mitte besser zu sehen und zu verstehen und finde sie gar nicht grau, sondern erlebe, wie viel leichter und bunter das Familienleben wird.
      Es geht nicht darum, Kinder in ihrer Wut allein zu lassen. Es geht darum, zu verstehen (was die Mutter offensichtlich tut) und dem klaren Abgrenzen, ohne Grenzüberschreitungen. Kinder finden keinen Halt in ihrer Wut, wenn ich verzweifelt daneben stehe, weil ich nicht mehr weiß, wie ich den kleinen Wutzwerg wieder zur Ruhe bringe. Kinder in dem Alter lernen auch nichts, wenn ich ihnen alles erkläre.
      Ich bin ganz bei Uta, wenn es darum geht, die Haltung der Mutter zu ergründen – aus diesem Bewusstsein kann sie eine klarere Haltung einnehmen. Und dann ohne Schimpfen und Bitten und erklären, klar auftreten. Sie kann gelassener mit der Wut umgehen, wenn sie aufhört, alles ausgleichen zu wollen. Sich abwenden und den Kleinen einfach mal stehen lassen.
      Kinder brauchen Raum, um mit ihren Gefühlen klarzukommen. Wenn ich dabei bleibe, kann ich dieses ohnmächtige Gefühl verstärken. Und im schlimmsten Fall lernt es, dass das, was es in der Wut tut, in Ordnung ist.
      Es ist nicht leicht, so einen Sturm auszuhalten – und dummerweise habe ich beim zweiten Kind erst realisiert, wieviel schlimmer ich es mache, wenn ich versuche, mein Kind in seiner Wut ja nicht allein zu lassen, es braucht mich ja schließlich, wenn es von seinen Gefühlen übermannt wird. Nein! Es braucht Klarheit. Und das bedeutet für mich ganz konkret, dass ich meine Meinung nicht ändere, sie aber auch nicht ständig wiederhole. Ich habe es gesagt. Fertig. Und dann gebe ich meinem Kind Zeit, damit zurechtzukommen. Wenn es Grenzen überschreitet, bin ich da, um dieses Verhalten zu unterbinden (ohne lange Reden) und wende mich wieder meinen Dingen zu. Bis mein Kind wieder zugänglich ist. Es braucht seine Zeit, bis das beim Kind (das mich vorher in solchen Situationen anders erlebt hat) ankommt. Und das braucht von mir Klarheit, Klarheit, Klarheit, Durchhaltevermögen. Und Vertrauen in mich und in mein Kind. Ganz viel Vertrauen.
      Und das heißt nicht, dass ich die Wut wegmachen will. Oder mein Kind alleine lasse. Wut ist ein wichtiges Werkzeug. Und mein Kind wird lernen, dass es gesehen wird, weil ich ihm Bedingungen schaffe, die seinen Bedürfnissen entsprechen (Mittagsschlaf, Essen, autonom erkunden oder dabei sein und helfen, also Teil der Gemeinschaft sein).
      Und es wird vor allem lernen, wie ich mich klar abgrenze/durchsetze, ohne mich reinzusteigern (denn das machen Eltern automatisch, wenn sie neben ihrem Kind stehen und auf es einreden, egal ob ruhig und liebevoll, oder selbst voller Wut).
      Liebe Grüße,
      Marie

      • Liebe Marie, ich glaube nicht, dass sich Eltern automatisch reinsteigern, wenn sie mit etwas Abstand bei einem wütenden Kind sitzen bleiben. Ich finde auch nicht, dass sie auf das Kind einreden oder lang und breit erklären sollen. Das klappt tatsächlich nicht. Mit „verbalisieren“ meine ich eigentlich nur, das Gefühl zu benennen, das das Kind gerade vermutlich fühlt. Denn es ist noch so klein, dass es vielleicht keine Worte dafür hat und das gar nicht für sich einordnen kann. Um es einzuordnen und letztlich in den Kanon der Gefühlsregungen zu integrieren, braucht es aber Begriffe. Ich habe zu viele Schüler*innen, denen ich erst mühsam beibringen muss, das Gefühl in ihrem Inneren, das sie da gerade zum Ausrasten gebracht und in eine Klepperei verwickelt hat, zu analysieren und zu bennen. Viele von ihnen fühlen sich nur „gut“ oder „schlecht“, aber ob sie wütend, traurig, eifersüchtig, verletzt, beschämt etc. waren, können sie gar nicht sagen. Und glaube mir, die Eltern dieser meiner Schüler*innen haben nicht im Kleinkindalter bei einem Wutanfall neben ihnen gesessen. Sie haben sich stattdessen abgewandt, damit „das Kind Raum hat, mit seinen Gefühlen selbst fertig zu werden.“ – Oder in ihren Worten: „Damit es sich abregen kann.“
        Ein Kind nicht in seiner Wut allein zu lassen, und ihm gleichzeitig Klarheit zu geben, schließt sich m.E. überhaupt nicht aus. Ich kann bestimmen, dass es die Tür nicht aufschließen darf, weil das Bedürfnis des Bruders, aufs Klo zu gehen, vor geht, und gleichzeitig verstehen, wie trautig und wütend es deswegen ist. Und wenn es dann seine Impulse nicht unter Kontrolle hat, weil es klein ist, und das Gehirn noch nicht weit genug entwickelt, kann ich auch verstehen, wenn es mich aus seiner Wut heraus hauen will, schließlich habe ich die Wut mit meiner Entscheidung verursacht. Das heißt nicht, dass ich mich milde lächelnd hauen lasse. Ich schütze mich selbstverständlich.
        Ich verstehe dieses Hauen und Wüten des Kindes in diesem Moment als Dialogsangebot. Übersetzt bedeutet es: „Ich bin nicht einverstanden mit deiner Entscheidung. Sie macht mich wütend!“. Ich verstehe an deinem Ansatz nicht, warum ich an dieser Stelle den (nonverbalen) Dialog abbrechen sollte, indem ich das Kind stehen lasse und mich meinen eigenen Dingen zuwende. Und dann wiederzukommen, um ohne langes Reden Grenzüberschreitungen zu unterbinden, wie du schreibst. Es ergibt für mich einfach keinen Sinn. Was lernt denn das Kind dabei? Sich selbst zu beruhigen? Das tut es doch auch, wenn ich mit Abstand daneben sitze und ihm zuhöre?
        Bei dem Kind zu bleiben und seine Wut zu begleiten bedeutet nicht, dass ich stundenlang auf das Kleinkind einrede, oder mehr als einmal meine Entscheidung erkläre oder mich eben überreden lasse. Es bedeutet nur, dass ich den Dialog nicht abbreche, sondern mir anhöre, wie sauer mein Kind über meine Entscheidung ist. Es ist sein gutes Recht, sauer zu sein und mir das mitzuteilen. Es ist mein gutes Recht, die Entscheidung gefällt zu haben, schließlich leite ich die Familie.
        Was ich an Utas Text kritisiert habe, war das Bild des „Knopfdrückens“, das ich bei einem Zweijährigen unangebracht finde und welches m.E. bitte nicht wieder Einzug in die Kleinkindpädagogik halten sollte. Die Haltung der Mutter zu erkunden, zu sehen, dass sie nicht klar genug ist und auch zu verstehen, dass sie zu stark versucht, auszugleichen, oder die Kinder nicht in Rollen rutschen zu lassen und das dann unabsichtlich doch macht, finde ich gut.
        Liebe Grüße, Katja Seide

      • Liebe Marie, ich freue mich sehr zu lesen, dass meine Beiträge euer Familienleben leichter und bunter machen. Und danke für deine Ausführungen! Ich sehe es auch so, dass es auf die Balance ankommt, dass Gefühle sein dürfen und das Kind darin gesehen wird, aber dass ich es nicht noch endlos darin bekräftige, indem ich immer dann mich ihm zuwende, wenn es wütet. Bindungsforscherin Becker-Stoll empfiehlt ein „mittleres Maß an emotionalen und verbalen Antworten“, also nicht Alleinlassen mit seinen Gefühlen, aber auch nicht in die Dauerbegleitung gehen. Herzliche Grüße und danke fürs Schreiben, Uta

    • Liebe Katja ,
      wie schön, dass du geschrieben hast. Das ist ein wichtiger Beitrag für unsere Diskussion hier.
      Wer Katja nicht kennt: Sie betreibt zusammen mit Danielle Graf den Blog „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt uns in den Wahnsinn“ und beide haben die gleichnamigen Bücher zu Trotzphasen und die Jahre 5 bis 10 geschrieben.
      Dank deines Kommentars habe ich gemerkt, dass das Bild von dem Jungen, der bei Mama einen Knopf drückt, nicht glücklich gewählt ist. Es suggeriert, wir hätten es hier mit einem kleinen Despoten zu tun, der bösartig seine Eltern manipuliert. Diesen Eindruck wollte ich nicht erwecken. Weder finde ich das Kind böse noch sein Verhalten verwerflich.
      Mir ging es eher darum, das Wechselspiel zwischen ihm und seiner Mama deutlich zu machen. Du würdest nicht bestreiten, dass ein solches Wechselspiel stattfindet, oder?
      Ihre Gefühle rational einordnen und regulieren – das können Kinder so langsam erst mit 3,5 Jahren. Das ist richtig. Auch dass sie sich in andere Menschen hineinversetzen können (Perspektiv-Wechsel), beginnt erst mit etwa vier Jahren. Trotzdem gibt es auf anderen Ebenen ein Wechselspiel zwischen Eltern und Klein- und Kleinstkindern. Eigentlich von der ersten Stunde an. Es ist – wie ich finde – das große Verdienst von Jesper Juul, unermüdlich darauf hingewiesen zu haben, dass Kinder immer kooperieren, auch spiegelverkehrt. Das heißt, selbst wenn sie überhaupt nicht tun, was wir von ihnen wünschen, geben sie uns eine wertvolle Rückmeldung, wie sehr wir mit unserem Verhalten eventuell auf dem Holzweg sind.
      Auch Bindungsforscherin Fabienne Becker-Stoll weist (in „Bindung. Eine sichere Basis fürs Leben“, Seite 125) darauf hin, dass die soziale Rückversicherung bei den Bindungspersonen etwa ab dem 11. Lebensmonat belegbar ist. „Es folgt dabei der Aufmerksamkeit eines vertrauten Erwachsenen und prüft dabei zunächst den Ausdruck, den bestimmte Ereignisse oder Dinge bei diesem hervorrufen.“ (Seite 125/126)
      Einen „Knopf drücken“ ist vielleicht ein schlechtes Bild, aber dass auch Kinder weit unter zwei Jahren schon „auswerten“, welche Reaktionen sie auslösen, ist nach meinem Kenntnisstand unbestritten.
      Deshalb ist es wichtig, im Coaching das Verhalten der Mama zu untersuchen und gemeinsam herauszufinden, welche inneren Überzeugungen sie steuern. Meiner Auffassung nach kann man nicht – wie es bei dir klingt – die Wut des Kleinen als Naturgewalt betrachten, die in keinem Zusammenhang zur Mama oder zum System Familie steht, in das er hineingeboren wurde. Denn – wie in so vielen Fällen – verhält sich dieses Kind anders, wenn es mit Papa allein ist. Folglich ist es nicht bloß eine Ich-kann-nicht-so-wie-ich-will-Wut, sondern hat auch mit der jeweiligen Beziehung zu tun.
      Du schlägst vor: „Bei ihm bleiben, den Wutanfall mit Mimik, Gestik und Stimmlage begleiten, vielleicht die Wut für ihn in Worte fassen und das Hauen, Beißen etc. ruhig abwehren, um sich selbst zu schützen.“
      Die Mama aus dem Coaching hat eine solche empathische Begleitung immer wieder angeboten und ihre Empathie für den Kleinen war für mich im Gespräch glaubhaft. Das hat aber so wenig funktioniert, dass sie sich zuerst an die Kinderärztin, dann an mich gewandt hat.
      Mit der von dir vorgeschlagenen Wut-Begleitung habe ich auch deshalb ein Problem, weil es so klingt, als sei die begleitende Mama eine neutrale Trösterin, als gäbe es kein Wechselspiel zwischen ihr und dem Kind außer der ausgelösten Bindungshormon-Ausschüttung durch Körperkontakt.
      Versteh mich nicht falsch. Auch ich finde wichtig, die Gefühle von Kindern ernst zu nehmen und zu spiegeln. Aber was ich immer lese von der Wut-Begleitung bedeutet für mich in dem beschriebenen Ausmaß ein gemeinsames Hineinsteigern in Gefühle. Und das ist wenig hilfreich. Aufmerksamkeit ist ein verhaltensbiologisches Signal, für das kleine Kinder empfänglich sind, weil sie – wie du und Danielle auch schreiben (Buch 1, Seite 26) – mit zwei Jahren überwiegend auf nonverbale Kommunikation reagieren. Und deshalb sehr stark auf Aufmerksamkeit.
      Ja, ich helfe dem Kind, Worte für seine Gefühle zu finden, wenn ich es begleite, wie von dir vorgeschlagen. Ja, wahrscheinlich wird beruhigendes Bindungshormon ausgeschüttet, wenn ich ganz nah bei ihm bleibe oder es sich in den Arm nehmen lässt (in dem beschriebenen Fall, stößt der Wutzwerg die Mama allerdings weg).
      Aber wäre es nicht logischer anzunehmen, dass Zuwendung sein Verhalten und seine Wut verstärkt? Suche ich mir dann nicht besser eine andere Situation aus (wenn er sich selbst beruhigt hat z.B.), um die Bindung zu stärken und ihm Worte für seine Gefühle zu vermitteln?
      Liebe Katja, in eurem ersten Buch verweist ihr auch auf Jean Liedloff und ihre Erfahrungen beim Stamm der Yequana, einem Volk südamerikanischer Ureinwohner. Mich hat das Buch sehr beeindruckt, als ich eine junge Mama war. Nicht vergessen werde ich die Stelle, an der sie beschreibt, dass sich eine Yequana-Mama als Anlaufstelle und als Trost- und Kuschelobjekt zu Verfügung stellt. Ich habe es aber nicht so verstanden, dass sie als Gefühlsbegleiterin initiativ wird.
      Ich glaube, viele von uns hat das Buch damals so bewegt, weil die Kinder der Yequana auf Jean Liedloff einen so glücklichen Eindruck machten und sich alle so im Flow befanden, statt sich in Machtkämpfe zu verstricken. Die Schweizer Therapeutin Rita Messmer, die ihr in eurem zweiten Buch im Literaturverzeichnis führt, weist darauf hin, dass bei Indigenen Völkern das Kind nie im Mittelpunkt steht, sondern die Gemeinschaft. Müssten wir vielleicht wieder mehr dahin kommen?
      Ich hätte noch so viele Fragen an dich und Diskussionspunkte mit dir und Danielle, aber das führt nun endgültig an dieser Stelle zu weit.
      Vielen Dank für deinen Input und herzliche Grüße aus Hamburg,
      Uta

  • Liebe Uta, liebe Katja,
    wie spannend! Ich bin keine sonderlich belesene Mama, ich lese in Sachen „Erziehung“ lediglich die Bücher und Blogs, die ihr BEIDE schreibt und suche mir dann das heraus, was für mich passt.
    Ich bin gespannt, wie die Diskussion weitergeht!
    Liebe Grüße
    Charlotte

  • Ich finde die Diskussion hier gerade auch sehr spannend und bereichernd! Ich denke, ich kann nachvollziehen, warum Katja sich etwas an dem „Knöpfe drücken“ in dem genannten Alter stört. Vielleicht ist die Metapher in diesem Zusammenhang nur unglücklich gewählt, da es in Richtung bewusste Manipulation deutet. ABER wenn man das „Knöpfe drücken“ mal in Richtung inneres Kind denkt, finde ich die Bezeichnung schon passend. Denn das würde bedeuten, dass normales alterstypisches Verhalten (Wutausbrüche etc.) bei der Mutter/Bezugsperson etwas triggert, aus welchen Gründen auch immer. Das nur am Rande dazu von mir 🙂

    • Hallo Busyizzy,
      So etwas ähnliches ging mit auch durch den Kopf.
      Das Kleinkind spürt unterbewusst, dass es die Mutter mit seinen Verhalten aus der Mitte bringt, dass sie emotional beteiligt ist. Und das raubt dem Kind Sicherheit. Die Mutter darf nicht unsicher sein. Und so wird das Kind solange dieses Verhalten weiter verfolgen, bis es die (emotionale) Sicherheit der Mutter wahrnimmt.
      Das Kind wird völlig unbewusst zum Entwicklungshelfer für die Mutter, indem es weiter „die Knöpfe drückt“ bis die Mutter wieder cool und entspannt die Führung übernimmt.
      Erst dann kann es dieses Verhalten aufgeben und sich seiner eigenen Entwicklung zuwenden…

  • Liebe Uta,
    dein Beitrag hat mich wieder einmal zum Nachdenken gebracht und sogar zu einer Antwort per Blogbeitrag gereizt! Mir wird durch deine Texte immer wieder klar, dass „Erziehung“, auf allen Ebenen, also nicht nur bei der „Kindererziehung“, v.a. Beziehungsarbeit ist. Mit dem großen oder kleinen Gegenüber, aber auch mit sich selbst!;-)
    Wenn du magst, hier ist der Artikel: https://mutter-und-sohn.blog/2019/12/04/kinder-erziehung-beziehung-oder-immer-gut-fuer-wasser-sorgen-unterm-beziehungsboot/ Vielleicht magst du mir ja deine Meinung dazu schreiben?
    Lieben Gruß, Sarah

  • {"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}

    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

    >