Warum die Unwahrheit zum Aufwachsen gehört und wie die Eltern-Kind-Beziehung trotzdem stark bleibt

In München war die Katzenklo-Familie in einem Lokal frühstücken. Als ich auf die Toilette ging, war die einzige Kabine besetzt und ich musste im Vorraum warten. Dabei wurde ich Zeugin, wie hinter der Tür eine Mama mit ihrer kleinen Tochter schimpfte. „Warum konntest du mir nicht sagen, dass du Pipi musst? Jetzt ist alles nass? Du bist doch kein Baby mehr? Ich habe dich gefragt, ob du zur Toilette musst und du hast ‚nein‘ gesagt. Warum lügst du mich an? WARUM? Du weißt ganz genau, dass Lügen eine ganz, ganz schlimme Sache ist. Wirst du das wieder tun?“ - Ich wand mich vor dem Händetrockner, machte mich räuspernd bemerkbar, um der Tirade hinter der Tür ein Ende setzen zu können. Jetzt schaltete die Mama um auf süßlich, säuselte „Hat dir das Brunchen Spaß gemacht? Sollen wir das wieder machen?“ und verließ mit der Kleinen an der Hand die Kabine. 

Das Mädchen war höchstens vier Jahre alt. Sternzeichen Schnecke. Ich weiß, dieses Sternzeichen gibt es nicht, aber ich fürchte, ihr Leben wird unter dem Eindruck dieses Tieres stehen, wenn sie so früh erlebt, zur Schnecke gemacht zu werden. 

Als ich den anderen am Tisch von meinem Erlebnis erzählte, meinte Prinzessin sarkastisch: „Auf diese Weise ermutigt, wird die Kleine bestimmt das nächste Mal die Wahrheit sagen.“ 

Nach dieser Bemerkung blieb mir mein Brötchen im Halse stecken. Ich erinnerte mich, dass auch ich unserer Tochter mal einen Vortrag über das Lügen gehalten hatte. Damals war sie vielleicht 13 Jahre alt und ich hatte ihr eingeschärft, auf dem Weg zu ihrer Freundin nicht durch die Kleingartenanlage zu radeln. In der Kleingartenanlage meiner Kindheit war mal ein Junge missbraucht und getötet worden. Seither habe ich die Kolonien mit den Stangenbohnen und Pergolen vor Holzhäusern immer im Verdacht, eine Kulisse schrecklicher Verbrechen zu sein. 

Ich hatte Prinzessin also eingeschärft, den Umweg die Straße entlang zu nehmen, sah sie aber wenige Minuten später unten in unserer Einfahrt nach links Richtung Laubenkolonie abbiegen. Ich schäumte vor Wut und legte mir bis zu ihrer Rückkehr einen Vortrag über das Lügen als eine der drei Todsünden zurecht. Abends bekam sie wortreich zu hören, wie sehr Lügen das Vertrauen untergrabe, warum es so wichtig sei, immer die Wahrheit zu sagen und dass Wahrhaftigkeit eines der wichtigsten Dinge im Leben überhaupt sei  …

Daran musste ich denken, als ich in dem „Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen“ von Philippa Perry das Kapitel über „Lügende Kinder“ las. Kurz nach dem Wechsel ihrer Tochter Flo auf die weiterführende Schule besuchte die Therapeutin den ersten Elternabend und sah sich mit einer provozierenden Aussage der Schulleiterin konfrontiert. Diese sagte: „Ihr Kind wird Sie anlügen.“ Perry dachte: „Meine Tochter nicht. Wir haben eine gute Beziehung.“ Musste aber ein paar Jahre später einsehen, dass die Schulleiterin Recht hatte. Ihre Tochter Flo gab eines Tages vor, Hausaufgaben bei einer Freundin zu machen, während die beiden Fünfzehnjährigen den Abend in der Bar der örtlichen Studentenverbindung verbrachten. 

Die Schulleiterin hatte damals gesagt: „Selbst wenn Sie denken, dass Ihr Kind Ihnen alles erzählt, wird es Sie anlügen, wenn es in die Pubertät kommt. Und Ihre Aufgabe ist es, daraus keine Staatsaffäre zu machen.“ 

Foto: Julia M. Cameron von Pexels

„… daraus keine Staatsaffäre machen… “ Das hatte Perry zum Glück noch im Kopf, als sie auf Umwegen vom Barbesuch der beiden Mädchen erfuhr. So konnte sie die große Moralpredigt herunterfahren auf ein klärendes Gespräch über die Motive von Flo und ihrer Freundin. Sie konnten einigermaßen sachlich darüber reden, was daran gefährlich war, und das aufregende Erlebnis miteinander teilen, anstatt sich durch Strafen und weitere Heimlichtuerei voneinander zu entfernen. 

Aus Lügen keine Staatsaffäre zu machen, ist für mich eine wichtige Erkenntnis (auch wenn sie in unserem Fall etwas spät kommt). Perry schreibt, dass sie die Schulleiterin einige Jahre nochmal auf das Lügen angesprochen und diese gemeint habe: „Jeder lügt. Von allen üblen Dingen, die wir tun, ist Lügen die häufigste Sache. Es ist das, worüber wir uns am wenigsten den Kopf zerbrechen. Aber aus irgendeinem Grund scheinen Eltern diese Sünde über alle anderen zu stellen.“ 

Das habe ich auch gemacht. Ich habe diese Sünde über alle anderen gestellt. Ich habe meinen Kindern eingeschärft, immer die Wahrheit zu sagen. Wenn Kronprinz oder Prinzessin sich eine Ausrede überlegten, warum sie sich zum Beispiel nicht mit einem Freund treffen könnten, haben sie von mir gehört, es würde ihre Freundschaft vertiefen, wenn sie ehrlich sagen würden: „Ich möchte heute Nachmittag lieber allein sein.“ Dazu stehe ich auch. Wie generell zu der Überzeugung, dass Wahrheit ein wichtiger Wert ist und man ohne sie keine tragfähigen Beziehungen aufbauen kann. 

Aber Philippa Perry und die Schulleiterin haben völlig Recht, wenn sie sagen, dass wir alle lügen würden. Erleben Kinder nicht, dass wir uns überschwänglich für das kitschige Kissen von Tante Moni bedanken, obwohl sie wissen, dass das überhaupt nicht unser Stil ist? Erleben sie nicht, dass wir Ausreden erfinden, um nicht an der nächsten Telefonkonferenz teilnehmen zu müssen, oder dass wir im Gespräch mit den Großeltern ein paar Urlaubserlebnisse unter den Tisch fallen lassen, um sie nicht zu beunruhigen? 

Es ist Teil des Teenagerlebens, Dinge unter den Tisch fallen zu lassen, um die Eltern nicht zu beunruhigen. Sie befinden sich in einem Ablöseprozess von uns, wenden sich einer Clique zu, die vorübergehend wichtiger wird als die Familie. Zu den Erfahrungen dieser Zeit gehört auch Gruppenzwang und es gehört dazu, Dinge zu tun, die man allein vielleicht nicht getan hätte. Um beim nächsten Mal für sich eine bessere Wahl zu treffen, ist es hilfreich, wenn man mit seinen wichtigsten Bezugspersonen darüber sprechen kann und diese sich nicht hinter einer Mauer aus Moral verschanzen. 

Philippa Perry

„Manchmal lügen Teenager oder erzählen etwas nicht, um Raum für sich selbst zu schaffen. Es ist nicht so, dass sie notwendigerweise etwas sehr Schlimmes vorhaben; sie haben etwas vor, das sie für sich oder in ihrem Freundeskreis behalten wollen, weil sie sich gerade vom Stamm der Familie und der Eltern lösen und ihren eigenen Stamm bilden. Ihr Ziel (als Eltern) muss es sein, diese Kommunikationsbahnen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter offen zu halten.“  (Seite 250) 

Foto: © Justine Stoddart

Mir ist in dem Kapitel nochmal klar geworden, wie wichtig es ist, zwar einen eigenen Standpunkt zu beziehen, aber seine Kinder nicht zu entwerten für das, was sie fühlen, sagen oder tun. Denn wenn ich weiß, dass ich wahrscheinlich entwertet werde, erzähle ich lieber nicht, was mich beschäftigt, dann gehe ich mit meinem wahren Selbst lieber auf Tauchstation. 

In dem Lügen-Kapitel von Philippa Perry geht es um Kinder und Jugendliche in der Pubertät. Aber auch jüngere Kinder lügen. Und auch daraus sollte man keine Staatsaffäre machen. Wenn sie das allerdings sehr häufig tun, ist das für Eltern ein klarer Hinweis, dass sie in ihrer Erziehung viel mit Strafe oder Beschämung arbeiten. Sonst hätte das Kind nicht so viel Grund,die Unwahrheit zu sagen. Es reagiert aus Angst mit Lügen. Und das ist Gift für die Beziehung. 

In meinem Beispiel vom Anfang mit dem kleinen Mädchen, das in die Hose gemacht hat, ist Lügen nicht das Thema. Ich vermute, das Einnässen des Kindes ist die Reaktion seiner Seele auf eine Mama, die meint, die Kleine mit Angst, Strafen und Moralpredigen lenken zu müssen. Das ist sehr traurig. 

Aber zurück zum Thema Lügen. Hier die wichtigsten Punkte als Zusammenfassung. 

  • Aus Lügen keine Staatsaffäre machen! Das kommt besonders während der Pubertät vor.
  • Wenn man auf Umwegen die Wahrheit erfährt, sollte man den Ärger verrauchen lassen und dann fragen: Wie kam es dazu? Warum war es dir wichtig? Warum wolltest du es mir lieber nicht erzählen?
  • Sich selbst fragen: In welchen Situationen erleben die Kinder es, dass ich die Unwahrheit sage?
  • Dem Kind gegenüber auch Lügen oder Schwächen zugeben. („Ich habe als 15jährige meine Chemie-Klausur verbrannt, damit dein Opa, mein Vater, sie nicht fand und schimpfen konnte.“)
  • Immer die Kommunikationsbahnen offen halten und gute Gesprächsgelegenheiten schaffen (beim Hundespaziergang, bei einen längeren Autofahrt zu zweit, bei einem gemütlichen Essen …).
  • Das Kind nicht entwerten und als Eltern gleichzeitig einen klaren Standpunkt beziehen. („In der Kleingartenanlage ist es im Herbst einsam, dort kann niemand dir in einer Notsituation zur Hilfe eilen und ich habe als Kind damit schlechte Erfahrungen gemacht. Deshalb möchte ich, dass du den anderen Weg wählst.“)
  • Kinder, die für das Lügen bestraft werden, lernen nur, besser zu lügen. Das zeigen Untersuchungen.
  • Wenn Eltern sehr oft belogen werden, sollten sie sich fragen, ob Strafe und Beschämung Mittel ihrer Erziehung sind. In dem Fall würde ich mein Coaching empfehlen

Immer fröhlich bleiben,

Eure Uta 

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  • Liebe Uta, herzlichen Dank für den Artikel – das Thema Lügen beschäftigt mich gerade sehr. Ich habe einen knapp fünfjährigen Sohn, der außerordentlich „gut“ lügt. Während es für mich als Kind kein Lügen ohne Rotwerden, Herumstammeln und Kichern gab, würde man bei ihm nie auf die Idee kommen, ihm nicht zu glauben. Nachdem ich ihn kürzlich zweimal in eher nichtigen Situationen „ertappt“ habe (etwa „Deine Haare sehen so anders aus, hast Du daran herumgeschnitten?“ – „Nein, wieso?“; die Locken lagen dann unter seinem Schreibtisch) und aus allen Wolken fiel, bin ich verunsichert. Nicht so sehr das Lügen per se stört mich, sondern, dass ich aufgrund seiner „Könnerschaft“ kaum Chancen habe, die Lügen herauszufinden – und meine Haltung, meinem Kind (etwa bei Konflikten in der Kita) zu vertrauen und stets zu ihm zu stehen, ins Wanken gerät. Kann es sein, dass er tatsächlich glaubt, was er erzählt? Es fällt mir schwer, keine „große Sache“ daraus zu machen.

    • Liebe Fredi, herzlichen Dank für deinen Beitrag! Wenn dein Sohn knapp fünf Jahre alt ist, ist das Lügen noch ziemlich neu. Denn erst wenn Kinder etwa vier Jahre alt sind, können sie den Perspektiv-Wechsel und können sich in andere Personen hineinversetzen – eine wichtige Voraussetzung für das Lügen. Das ist natürlich spannend, wenn ich plötzlich eine neue Realität erschaffen kann. Das muss ausprobiert werden, bedeutet aber nicht, dass in deinem Sohn ein großer Lügner und Betrüger angelegt ist. Vielleicht kannst du das Thema mal beiläufig beim Vorlesen eines Buches aufgreifen. Hier findest du Literaturtipps dazu https://blog.kinderinfowien.at/kinderbuecher-zum-thema-wahrheit-und-luege/. Ansonsten würde ich deinem Sohn unbedingt wieder Vertrauen schenken. Denn wenn du dem kleinen Mann mit zunehmenden Misstrauen begegnest, schwächt das eure Beziehung und macht das Ganze nur schlimmer. Liebe Grüße, Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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