Die Fähigkeit, Bedürfnisse aufschieben zu können, ist wichtiger für den Lebenserfolg als der IQ
Ein Vierjähriger, der seine Bedürfnisse für ein paar Minuten aufschieben kann, hat eine hervorragende Prognose für späteren Schulerfolg und für sein Sozialverhalten als Erwachsener.
Der Test über die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub ist doppelt so prognosenfähig für späteren Erfolg als ein Intelligenztest.
Ist das nicht beeindruckend? Das habe ich bei Martin Korte, Professor für Neurobiologie in Braunschweig, in seinem Buch „Wie Kinder heute lernen“, wieder entdeckt. (München 2009)
Korte bezieht sich auf den berühmten Marshmallow-Test des damaligen Stanford-Professors Walter Mischel. Ihr kennt den Versuch wahrscheinlich: Vierjährigen wurde ein Marshmallow vor die Nase gelegt und gesagt, sie würden ein weiteres bekommen, wenn sie während der 20minütigen Abwesenheit des Versuchsleiters die Süßigkeit vor ihnen nicht essen würden. 20 Minuten, ganz schön lange für einen Vierjährigen, oder? Aber es gab tatsächlich Kinder, die so lange warten konnten und dafür mit einem weiteren Marshmallow belohnt wurden.
14 Jahre später wurde untersucht, was aus den Kindern geworden war, die an dem Versuch teilgenommen hatten. Dabei schnitten die Kinder, die dem Wunsch, das Marshmallow sofort zu essen, nicht nachgegeben hatten, auch in Intelligenz- und Hochschulexamens-Tests besser ab als die Kinder, die ihren Impuls nicht hatten kontrollieren können. (Korte, S. 111)
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„Diejenigen, die als Vierjährige eine größere Selbstbeherrschung zeigten, waren auch mit 18 Jahren sozial kompetenter, durchsetzungsfähiger und konnten mit Frustrationen und selbst mit Situationen, in denen sie unter Druck gesetzt wurden, besser umgehen." (Korte, S. 111)
Professor Martin Korte
Sofort wollte ich Professor Korte anrufen und fragen, wie man Kleinkinder darauf trainieren kann, den Marshmallow-Test zu bestehen. Bei uns ist es zu spät. Aber ich dachte, ihr müsst es wissen. Lässt man sie täglich ein bisschen warten? Verbringt man Minutenweise im Flur, um ein tapfer vor einem Gummibärchen verharrendes, speicheltriefendes Kleinkind … tatataaaa … mit einem zweiten Gummibärchen für sein Kurz-Fasten zu belohnen?
Katja Seide und Danielle Graf greifen in ihrem ersten Gewünschtestes Wunschkind-Buch auch den Marshmallow-Test auf und empfehlen, eine sonst rundum zufriedene Zweijährige auch mal warten zu lassen: zum Beispiel im Supermarkt die Banane erst essen zu lassen, wenn sie bezahlt ist, oder den Abwasch erst zu Ende zu bringen, ehe man aus dem Bilderbuch vorliest. Also keine Gummibärchen-Dressur, sondern immer wieder ein sich im Alltag ergebendes Warten-Lassen. (S. 41)
Selbst in der Bedürfnisorientierten Erziehung also spielt Bedürfnisaufschub eine wichtige Rolle.
„Es ist nicht sinnvoll, ja sogar schädlich, Kinder ab dem zweiten Lebensjahr alle Wünsche sofort zu erfüllen,“ schreiben Graf und Seide, „denn das Gehirn lernt Impulskontrolle nur durch Übung.“ (S. 41)
Ich würde noch einen Schritt weitergehen: Wenn ich als Mama freudig voran schreite, wenn ich mir erlaube, die Tannengirlande zu binden, auf die ich eine so große Lust habe, statt Lego mit meinem Zweijährigen zu spielen, wozu ich überhaupt keine Lust habe, ergibt sich der so wertvolle Bedürfnisaufschub für das Kind automatisch, ohne dass ich ihn bewusst einsetzen muss. Eltern sollten viel mehr tun, was ihnen Freude macht und die Kinder mitreißt, statt sich abzuringen, ihrem Kind ein Spielkamerad zu sein.
Meine vor Monaten in einem Wartezimmer entstandene bahnbrechende Zeichnung, die damals bei euch erstaunlich wenig Beachtung gefunden hat, sagt mehr als tausend Worte:
Kurz & knackig
Wenn ich als Bindungsperson meine Freude und meine Leidenschaften den Ton angeben lasse und mir meine Hobbys erlaube, habe ich viel mehr Geduld für die Spiele, die sich für das Kind am Rande meines Schaffens ergeben. Nebenbei trainiert das Kind dann den wertvollen Bedürfnisaufschub, weil es seinen ursprünglichen Spielwunsch (Holzpuzzle) hinten an stellen musste. Das Kind macht darüber hinaus die kostbare Erfahrung, wichtig zu sein für seine tannenbindende Mama und die Gemeinschaft. „Guckt mal, die Girlande! Tobi hat geholfen, sie zu binden!“
Noch ein Wort zum Halten von Versprechen:
Das zusätzlich versprochene Marshmallow - hier im übertragenen Sinne - solltet ihr unbedingt geben. Wenn ihr beim Einkauf versprochen habt, die Banane darf gegessen werden, sobald sie bezahlt ist, haltet euch daran! Wenn ihr gesagt habt, ihr lest eine Gute-Nacht-Geschichte vor, sobald ihr die Wäsche aufgehängt habt, haltet euch daran! Wenn ihr gesagt habt, es gibt einen Löffel Pudding mehr für die, die gewartet haben, bis alle mit dem Hauptgang fertig sind, haltet euch daran!
Gebrochene Versprechen sind ein herber Rückschlag für die Fähigkeit des Kindes, seine Impulse zu kontrollieren. Dagegen ist jedes gehaltene Versprechen eine große Stärkung für den Faserstrang, der im Gehirn den Stirnlappen mit dem Mandelkern (Gehirn-Struktur für die emotionale Bewertung von Situationen) verbindet. Das Gefühl, dass sie sich grundsätzlich auf ihre Eltern verlassen können, stärkt Kinder ungemein, hilft ihnen, eigene Bedürfnisse bei Bedarf hinten an zu stellen und ist für den Schul- und Lebenserfolg wichtiger als Intelligenz.
Immer fröhlich die Situationen begrüßen, in denen eure Kinder mal ein Bedürfnis aufschieben müssen, und immer fröhlich Tannengirlanden binden. Das mache ich nämlich heute auch.
Eure Uta
Zum Weiterlesen:
* Im heutigen Beitrag ging es um die Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben, als Garant für späteren Lebenserfolg. Der Post "Gut genug als Sandburg-Architekt?" behandelt die Frage, wie man ältere Kinder in der Schule stärkt.
* "Kurz vor Beamen" hat das Thema "Bedürfnisaufschub für Erwachsene" und was das mit der Schul-Eignung von Kindern zu tun hat.
PS1: Dieser Beitrag ist - wie all meine Beiträge - unbezahlt, aber wegen der Verlinkungen gilt er als Werbung.
PS2: Photo by Daria Shevtsova from Pexels