Für mein Buch habe ich gerade das Kapitel über Schule geschrieben. Keine Techniken zum effektiveren Vokabel-Abfragen, keine Methoden zur Leistungssteigerung von Sechsjährigen, keine Anleitung zum Thema „Wie bekommt mein Kind eine Gymnasial-Empfehlung?“, sondern ein Mut-mach-Kapitel nach der Devise: „Dein Leben zählt, nicht deine Noten.“
Beim Schreiben fiel mir eine Blog-Leserin ein: Katharina*. Über die Jahre erreichte mich immer wieder mal ein Kommentar oder eine Mail von ihr. Darin schilderte sie, wie sie ihren Sohn – nennen wir ihn Fabian* – ermutigte, schulische Hürden zu nehmen. In diesen Tagen habe ich sie gebeten, den Werdegang ihres Sohnes nochmal zu erzählen: wie er schon mit drei Jahren Dino-Forscher werden wollte, wie beide Großväter meinten, das sei nur eine Phase, wie seine Lehrerin auf der Realschule ihm mehr Steine in den Weg legte, als sich dafür zu interessieren, dass er welche ausgrub, wie er doch noch Abitur machte, was ein Paläontologe ist …
Fabians Geschichte findet kurz Erwähnung in meinem „Erziehungskompass“, der – jajajajajajaja – im September im Verlag Ellert&Richter erscheinen wird. Ich befinde mich schreiberisch im Endspurt, der Haushalt verkommt, die älteren Herrschaften in der Nachbarschaft warten vergeblich auf Gemüsekisten und Kronprinz muss für Prinzessin (mündliches Abi!) und mich die Wäsche aufhängen.
Fabians Geschichte ist ein modernes Märchen, finde ich. Solche Geschichten brauchen wir, wenn wir – wie ich gestern von einer Freundin – hören, dass Schüler nach der Lock-Down-Phase zurück in die Schule kommen, gleich am ersten Tag einen Mathe-Test schreiben und es Fünfen und Sechsen hagelt. Kurz darauf bekam meine Freundin eine Mail von der Lehrerin. Sie sehe John (9.Klasse, 5 im Test) nicht in der Oberstufe und würde raten, ihn auf einer Stadtteilschule unterzubringen. Die von John in der Corona-Zeit erbrachten Leistungen könne sie nicht werten, weil sie wahrscheinlich mit Hilfestellung zustande gekommen seien. Meine Freundin gräbt gerade den Garten um, weil sie sonst nicht weiß, wohin mit ihrer Wut.
Für sie und für uns alle zum Trost die Geschichte von Fabian, von seiner Familie und der Kraft mütterlicher Ermutigung:
„Als es anfing, war Fabian etwa drei Jahre alt und hatte von Dinos erfahren. Ich nehme an durch den Zeichentrickfilm „In einem Land vor unserer Zeit“, mit dem kleinen Brontosaurus „Littlefoot“ als Helden. Danach wollte Fabian immer mehr wissen.
Also wurden Dinobücher gekauft, und „Littlefoot“ durfte er auch ab und zu gucken. Als er Vier war, verbrachten wir den Sommerurlaub in Frankreich und besuchten dort einen Dinopark. Ich zeigte ihm freudig die T-Rexe und wurde sofort korrigiert, dass das keine seien, sondern Raptoren…
Im Kindergarten malte er mir zum Geburtstag ein Bild von den Dinos im großen Tal. Heute hängt es immer noch im Nähzimmer. Im Jahr danach wurde sein kleiner Bruder geboren und wir fuhren im Sommer für drei Tage ans Steinhuder Meer, um in Münchehagen den Dinopark zu besuchen. Er kannte alle noch so komplizierten Namen von Dinosauriern und verkündete, dass er mal „Paläontologe“, also Dino-Forscher, werden will. In den folgenden Jahren fuhren wir in Museen, ins Naturkundemuseum nach Kassel oder ins Senckenbergmuseum nach Frankfurt, meistens um die Dinosaurier-Ausstellungen zu sehen. Alle Geburtstage wurden natürlich mit Dino-Ausgrabungen oder T-Rex-Kuchen gefeiert.
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In der Familie stieß sein Berufswunsch nicht auf Begeisterung. Der eine Opa ist Handwerker, der andere Land-und Forstwirt und beide konnten überhaupt nicht verstehen, was man an Viechern findet, die seit 66 Millionen Jahren ausgestorben sind. Alle taten es als Phase ab, die ja fast alle Kinder mal haben, und hofften, dass diese Marotte vorüber gehen würde. Ich fand Fabian aber schon immer sehr beständig in seinem Wunsch und versuchte, ihn dabei zu unterstützen. Denn was gibt es Schöneres, als für etwas wirklich zu brennen?!
Eine faule Socke war er aber trotzdem und ziemlich schlau. Das kam bei einem IQ-Test raus, der wegen seiner Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) gemacht wurde. „Hochsignifikante LRS“ lautete die Diagnose, was die Lehrerinnen kaum glauben wollten. Er ging zur Realschule. Und als das Betriebspraktikum anstand, sagte ich ihm: „Wenn du wirklich Paläontologe werden willst, musst du nach Korbach ins Museum.“ Im hessischen Korbach wurde der Procynosuchus gefunden, eine Mischung aus Reptil und Säugetier. Als er vor 25 Jahren in einem Steinbruch entdeckt wurde, war es eine Weltsensation. Funde davon gibt es nur in Korbach und in Südafrika.
Fabian ergatterte in Korbach einen Praktikumsplatz. Zwar lernte er dort mehr über Schokoladenherstellung, weil das Thema einer Sonderaustellung in der Zeit war, er wurde aber auch ein vollkommen anderer Mensch in dieser Zeit. Er ging auf in der Museumsarbeit, und das bestätigte seinen Berufswunsch. Allerdings ist für Paläontologie ein Abitur nötig. Also musste er auf der Realschule einen qualifizierten Abschluss schaffen, um auf das berufliche Gymnasium wechseln zu können.
Dafür brauchte er eine Zwei in Mathe, bekam aber eine Drei, obwohl er schriftlich nur Einser und Zweier abgeliefert hatte. Das gab Tränen und es half ihm nur eine Eins in der Abschlussprüfung. Und was machte dieser Teufelskerl? Schrieb seine Abschlussprüfung in Mathe mit 1 und bekam die 2 ins Zeugnis. Allerdings musste ich mir von seiner Lehrerin anhören: „Meine Englisch-Kollegin und ich haben uns gefragt, was der Junge wohl auf dem beruflichen Gymnasium will.“ Das zeigte mir, wie wenig die Lehrerinnen ihn verstanden hatten. Aber er machte noch seine Abschlusspräsentation über den Procynosuchus und hatte seine Qualifikation in der Tasche. Nun musste er selbst sehen, wie er sein Abitur macht. Schließlich war es sein Berufswunsch und nicht meiner.
Für das Praktikum am beruflichen Gymnasium fragte ich ihn, ob er mal in einen technischen Beruf rein schnuppern wollte, aber da war er ganz erbost. Nein, er würde zur Paläontologin nach Kassel ins Naturkundemuseum gehen. „Genau“, antwortete ich, „weil die ja darauf wartet, bis irgendwer aus der Provinz mal vorbeikommen will!“
Bei einem Festakt zum zehnjährigen Bestehen des Geoparks in Korbach aber nahm Fabian all seinen Mut zusammen und sprach die Paläontologin aus Kassel an, die bei den Feierlichkeiten zu Gast war. Sie sagte, normalerweise würde sie keine Schulpraktikanten nehmen, nur Studenten, aber wenn sie sähe, dass ein solches Interesse vorhanden wäre, würde sie eine Ausnahme machen.
Das Abi hat er im vergangenen Jahr bestanden und studiert seit Oktober in Göttingen Geowissenschaften. Darin muss er den Bachelor machen, um sich anschließend in Bonn mit „Paläontologie, Fachrichtung Dinosaurier,“ ganz mit den Urzeit-Riesen zu befassen, die ihn schon als Kleinkind begeistert haben.
Mittlerweile ist er ein beeindruckender junger Erwachsener geworden, der in den letzten drei Monaten hier eine große Stütze war. Seit er Student ist, sieht er auch, dass Geschirr abgewaschen werden muss und aufräumen nicht nur die anderen machen sollten. In die SPD ist er mit 18 eingetreten, weil er findet, dass man nicht immer nur motzen darf, wenn sich etwas ändern soll. Mal sehen, was das Leben für ihn bereit hält. Auf jeden Fall sind die Weichen gestellt und je mehr ich aufgehört habe, Druck zu machen, um so leichter ging es.
Bleib schön gesund in dieser verrückten Coronazeit!
Ganz liebe Grüße,
Katharina
Liebe Katharina, lieber Fabian, vielen Dank, dass ich eure Geschichte veröffentlichen darf!
Immer fröhlich an eure Kinder glauben und sie in dem unterstützen, wofür sie „brennen“,
eure Uta
*Die Namen habe ich verändert.
So schön und danke für die Offenheit. Ich kenne es von meiner Tochter dass sie 1er und 2er schreibt und eine 3 ins Zeugnis bekommt, weil sie mündlich einfach leise ist. Ich weiß aber, dass sie alles schaffen kann und unterstütze sie, wenn sie mich braucht und in ihren Träumen;-)
Liebe Uta,
was für eine schöne Geschichte! Ja, das macht Mut! Mein Sohn hat gerade das „Corona“-Abitur bestanden und ich habe mich auch versucht zurückzunehmen mit guten Ratschlägen in der Schulzeit. Hat natürlich nicht immer geklappt. Nun hat er das Abitur in der Tasche und weiß so gar nicht was er machen will, er jobbt erstmal in einem Getränkemarkt und bleibt ganz relaxed. Das auszuhalten fällt mir oft schwer, aber ich hoffe doch, das er sich bald mal mit der Zukunft auseinandersetzt. Ich wusste auch schon früh, was ich beruflich machen will, aber das ist nicht bei jedem so…wer weiß wozu es gut ist.
Liebe Grüße und Dankeschön für den schönen Blogbeitrag!
Deine Eleonore
Danke fürs Teilen dieser beeindruckenden Geschichte. Wir erleben in unserer Gemeinschaft immer wieder, wozu Menschen fähig sind, wenn sie Zeit, Raum und Ermutigung für ihren eigenen Weg bekommen.
Leidenschaften sind so wichtig; was wir damit alles erreichen könn(t)en, wenn wir ihnen Raum geben! Ich unterrichte seit 18 Jahren Zirkuskünste und habe noch nie erlebt, dass ein Kind nichts kann. Schule legt das aber offenbar manchen Kindern nahe. Vor einigen Jahren sagte die 7-jährige S. im Zirkuskurs zu mir: „Hier sollte unsere Lehrerin mal herkommen. Dann würde sie sehen, dass K. und ich auch was können.“
Mit S. habe ich immer noch Kontakt, sie ist mittlerweile seit mehreren Jahren als Helferin bei Zirkusaktionen dabei und nach wie vor ein toller Mensch.