Nachdem die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen haben, machen wir uns große Sorgen um unsere afghanische Pflegetochter. Wer hier schon länger liest, weiß, dass wir 2017 für mehr als zwei Monate ein herzkrankes Mädchen aus der Nähe von Kabul bei uns aufgenommen hatten. Sie war mit knapp einem Dutzend anderer Kinder über die „Herzbrücke“, eine Hamburger Stiftung, nach Deutschland gekommen, um hier am Herzen operiert zu werden. Wir gehörten zu einer Gruppe von Gasteltern, die jeweils ein oder zwei Kinder bei sich aufnahmen, damit sie vor und nach der großen Operation liebevoll betreut werden konnten.
Uns war Sadia anvertraut worden, eine selbstbewusste kleine Paschtunin, die bald klar sagen konnte, welchen Brotaufstrich sie wollte und welchen nicht („das ja, das nein!“), die rasend schnell Deutsch lernte („Hallo, hallöchen!“), die sich tapfer eines morgens von Kronprinz und mir zur Operation ins Albertinen-Krankenhaus bringen ließ und die - kaum aus der Klinik entlassen - anmutig durch unser Wohnzimmer tanzte oder auf dem Trampolin hüpfte.
Als Sadia damals wieder mit der Gruppe der genesenen Kinder nach Kabul zurückkehrte, trug sie nicht Jeans und Sweatshirt, die neuen westlichen Kleider, wie die anderen. Sie bestand darauf, für die Rückkehr in ihre Heimat in das lange rote Kleid zu schlüpfen, das ihre Mutter ihr für die Reise nach Deutschland angezogen hatte.
Nun soll dieses stolze und kluge Mädchen, mittlerweile zehn Jahre alt, unter dem Regime der Taliban leben? Nun soll sie, ihre drei Schwestern, ihre Mutter und Tanten so viel Frauenrechte bekommen, wie es die Scharia erlaubt? Nun soll sie noch mehr bittere Armut und Gewalt erleben als bisher schon?
Am Wochenende haben wir uns mit einem Arzt getroffen, der aus Afghanistan stammt, aber seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und sich für die „Herzbrücke“ engagiert. Seit Sadias Abreise 2017 hat er uns ermöglicht, regelmäßig mit ihr zu telefonieren. So auch am vergangenen Samstag.
Wir haben die Familie über das Handy meines Mannes angerufen. Und nach einer langen Ansage des afghanischen Netzbetreibers, nach viel Knistern und Rauschen hörten wir Sadias Stimme. Gemeinsam beugten wir uns über das Smartphone auf dem Couchtisch. Es war ein großes Hallo der Erleichterung, sie in diesen Tagen überhaupt erreichen zu können. Und fast das Erste, was sie sagte, war: „Ich will zurück nach Deutschland!“ Sie berichtete, dass ihr Haus zerstört worden und ihr Onkel umgekommen sei. Nun würden sie irgendwo zur Miete wohnen.
Betroffenes Schweigen im Wohnzimmer. Schließlich ließen wir Dr. K. versichern, dass wir und die „Herzbrücke“-Stiftung unser Möglichstes tun werden, um der Familie zu helfen.
Ich werde hier berichten, sobald wir Wege finden, etwas für Sadia, ihre Geschwister und Eltern zu tun.
Mir tut es auch leid für die Gründer und alle Mitarbeiter und Unterstützer der „Herzbrücke“ in Hamburg und in Afghanistan, dass sie ihre über Jahre aufgebaute Arbeit wahrscheinlich nicht werden fortsetzen können. Seit 2005 haben sie mehr als 200 Kindern, die in Afghanistan nicht behandelt werden konnten, eine lebensrettende Operation ermöglicht. Sie haben afghanischen Ärzten Fortbildungen gegeben, und seit neuestem war es in einer Kooperation mit einer französischen Klinik in Kabul auch möglich, herzkranke Kinder vor Ort zu operieren. Was wird aus all dem jetzt?
Da kann einem das „immer fröhlich bleiben“ im Halse stecken bleiben,
Eure Uta
Danke für die Nachricht. Ich habe mich auch schon gefragt, was mit ihr und der Familie ist. Ich hoffe, ihr findet einen Weg!
LG
S
Danke für deine guten Wünsche! LG Uta
Ach Uta, mir kommen bei deinem Bericht die Tränen. Wie muss es dann erst für dich sein?
Plötzlich bekommen Nachrichten (die ich eigentlich schon ewig boykottiere) ein Gesicht, werden real.
Sadia ist so alt wie meine Tochter. Unvorstellbar, welche Angst und welches Leid sie und ihre Familie aushalten müssen.
Wir, in unserem Land, leben gefühlt auf einem anderen Planeten.
Ich drück dich feste und bin in Gedanken bei Sadia und ihren Lieben.
Deine Mechi
Liebe Mechi, ich habe auch eine Zeit lang Nachrichten boykottiert. Aber seit Corona und besonders seit der dramatischen Zuspitzung in Afghanistan informiere ich mich und höre Hintergrundberichte von verschiedenen Seiten (mit jüngeren Kindern wie bei dir, hätte ich allerdings nicht die Ruhe dazu). Es tut mir wohl, mir auf dieser guten Grundlage eine eigene Meinung bilden zu können. Besonders wegen der bevorstehenden Wahl, die mir so wichtig ist wie noch nie eine Wahl.
Danke für deine Mitgefühl wegen Sadia! Bevor wir sie sprechen konnten, schlief ich sehr unruhig. Aber ihre selbstbewusste Stimme zu hören, tat wohl. Viele liebe Grüße, Uta
Liebe Uta, Dein Bericht berührt mich sehr. Wir und unsere Kinder sind hier so behütet – noch nie ist mir dieses Privileg so bewusst geworden wie die letzten anderthalb Jahre seit Beginn der Pandemie. Und Sadia, fast im selben Alter wie meine ältere Tochter…puh. Mir ist bei Deinem Beitrag ein Zitat in den Sinn gekommen: „Niemand begeht einen größeren Fehler als jener, der nichts tut, weil er nur wenig tun kann.“ Also wirklich großartig, dass Du etwas tust! Danke für Deine Hartnäckigkeit und Liebe, bei der Herzbrücke und Sadias Familie dran zu bleiben! Alles Liebe Eva
Liebe Eva, herzlichen Dank, dass du geschrieben hast, und danke für deine Anerkennung! 😊Ich bin gespannt, wie sich die Lage entwickelt und welche Möglichkeiten sich auftun. Viele, liebe Grüße, Uta
Liebe Uta,
ich drücke fest die Daumen, dass ihr eine Möglichkeit zu helfen findet! Mit eurer Geschichte bekommt das Leid in Afghanistan ein Gesicht.
Viele Grüße
Lisa