Von meiner Großtante und davon, wie schön es ist, wenn Kinder in Erwachsenen-Arbeit einbezogen werden
Mein Mann und ich sind in einer sehr ähnlichen Familienkonstellation aufgewachsen. In unserer Kindheit, die jede knapp 400 Kilometer von einander entfernt stattfand, gab es jeweils eine verwitwete Oma und ihre zwei unverheirateten Schwestern mütterlicherseits. Diese alten Damen haben auf eine unaufgeregte Art und Weise eine große Rolle in unserem Leben gespielt. Sie waren einfach da und haben irgendetwas gearbeitet.
Bei mir war es besonders meine Großtante Franziska. Als meine Mutter Kind und sie ihre Tante war, konnte sie wohl recht schroff sein zu kleinen Menschen. Sie schenkte an Weihnachten bloß Unterhemden, die kratzten, und als sie ein paar Jahre später die ersten Großnichten und -neffen im Kinderwagen durch die Gegend schob, war ihr Fahrstil berüchtigt. Die Babys wurden querfeldein geschaukelt und geschüttelt, kein Bordstein war zu hoch, um ihn nicht frontal mit Schwung zu nehmen. Wir haben es alle überlebt. Und da Tante Franziska fast 95 Jahre alt wurde, hatten wir das Glück, über Jahre zu erfahren, was es bedeutet, wenn jemand altersmilde wird.
Sie kam jeden Donnerstag zu uns und half meiner Mutter im Haushalt. Wenn ich mittags aus der Schule kam, war sie schon da. Es roch nach heißer Baumwolle und Bügeleisen und auf der Anrichte in der Küche lag diese vergilbte beige Decke, auf der sie Wäsche zusammenlegte und bügelte. Sie war niemand, der mit einem kuschelte. Ich bezweifele, dass sie das Wort überhaupt kannte. Aber irgendwie hatten wir alle einen Stein bei ihr im Brett. Das war zu spüren. Und ihr Stein wird immer bei mir im Brett sein. Ich nannte meine liebste Puppe nach ihr und Prinzessin (16) trägt ihren Namen als zweiten Vornamen.
Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je mit mir auf einem Spielplatz gewesen wäre, geschweige denn in Disney-Land. Das einzige Mal, dass sie ihre Heimat verließ, war, als sie mit der örtlichen „Pax Christi“-Gruppe den Papst in Rom besuchte. Und dann war sie – Gott sei dank – wieder da und machte selbst Leberwurst und Sülze und bügelte. Ich war für die Taschentücher zuständig. Mit ihren schwieligen Händen zeigte sie mir, wie man die Tücher glatt strich, dann erst die Kanten entlangfuhr und zum Schluss das Eisen über das ganze Tuch gleiten ließ. Wenn der Korb mit der geplätteten Wäsche voll war und sich oben die Päckchen mit den Taschentüchern stapelten, die zusammengelegt mit der Restwärme des Eisens noch einen ordentlichen Kniff bekamen, haben wir beide am Küchentisch eine Partie „Halma“ gespielt. Das war der Abschluss. Dann ging sie wieder.
Als mein Mann ein Junge war, haben seine alten Tanten – meines Wissens – nicht mit ihm gespielt. Aber sie brachten „Hohes C“, wenn er krank war und in der Stube fiebrig auf dem Sofa lag. Noch lieber ist ihm aber die Erinnerung an gesunde Tage, wenn er mit Mama, Oma und den Tanten um den Küchentisch saß und sie getrocknete Bohnen sortiert haben.
Dabei sein, wenn die Erwachsenen etwas arbeiten. Sich zugehörig fühlen als Kind und schon einen Beitrag leisten dürfen. Das ist ein ganz wichtiges Bedürfnis von Kindern, ein Bedürfnis, das heute zu kurz kommt.
Von dem norwegischen Psychologen Magne Raundalen stammt das sprachliche Bild, dass Eltern zur „Bedienung im Lustcafé der Kinder“ geworden sind. Gemeint ist damit, dass wir Erwachsenen glauben, wir müssten für ein unglaublich spaßiges und buntes Erlebnis sorgen, wenn wir endlich Zeit haben für unsere Kinder. Wir müssten zum Pony-Reiten, in den höchsten Kletterpark, auf den größten Weihnachtsmarkt oder zum fünften Mal „Mensch-ärgere-dich-nicht“ spielen, obwohl wir beim zweiten Mal schon keine Lust mehr hatten.
Wenn ich mir angucke, was mir so wohl getan hat damals mit meiner Tante Franziska und woran ich mich Jahrzehnte später noch gerne erinnere, dann erfüllt das folgende Kriterien:
- ein vertrauter Erwachsener war einfach da
- es war ein Ritual; sie kam immer donnerstags
- ich wurde nicht weggescheucht oder in eine Betreuung gesteckt, sondern meine Tante genoss es spürbar, dass ich da war; und entsprechend genoss ich es, dass sie da war
- sie ließ mich beiläufig mitarbeiten, zeigte mir kleine Handgriffe und ließ mich dann alleine machen (ich glaube, es gab ein kleines elektrisches Bügeleisen nur für mich)
- sie verlor ihre Arbeit darüber nicht aus den Augen; sie machte mich nicht zu ihrem pädagogischen Projekt, so nach dem Motto „Bis heute Abend muss Uta gelernt haben, wie man eine Bluse bügelt.“; wir arbeiteten einfach zusammen vor uns hin
- ich hätte vielleicht auch Lust gehabt, zum Pony-Reiten zu gehen, aber statt eine kurzfristige Lust zu befriedigen, wurde ein tiefer gehendes Bedürfnis gestillt, das Bedürfnis, als Kind einen Beitrag zu leisten für die Erwachsenen und sich zugehörig zu fühlen zu einer Familie
- und meine Tante tat einfach ihre Arbeit, wenn sie ihre Zeit „geopfert“ hätte, um mich bei Laune zu halten und etwas mit mir zu spielen, hätte sie Geduld gebraucht, wäre vielleicht nicht ganz bei der Sache gewesen, weil sie immer hätte daran denken müssen, was noch alles zu tun ist, darüber wäre ich nörgelig geworden und sie auch, und es hätte geendet, wie es gerne endet, wenn Erwachsene extra etwas für Kinder machen und irgendetwas geht schief und alle sind nur noch genervt
- es galt: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen (Halma)!“, wobei für mich schon das Bügeln ein Vergnügen war und die eine Partie „Halma“ das Sahnehäubchen.
Zu diesem Thema hat mich eine Stelle in einem neuen Buch von Jesper Juul inspiriert. Er schreibt:
Ich hörte eines Tages in einer Radiosendung, in der der Vater eines vier Jahre alten Jungen berichtete, es sei für den Sohn besser, wenn der Kleine im Winter in den Kindergarten käme, weil er selbst im Haus einige Zimmer neu streichen wolle. Es entsprach dem Tenor der Sendung, dass ihm unterstellt wurde, er wolle sich dem Zusammensein mit dem Sohn entziehen. Ich jedoch glaube, er war vollkommen aufrichtig – und leider vollkommen im Irrtum! Für einen Knirps von vier Jahren gibt es nicht Besseres, als dabei zu sein, wenn sein Vater das Haus streicht, das Auto wäscht oder den Garten umgräbt.
Nur gemeinsam mit den Eltern haben Kinder die Möglichkeit, Erwachsene zu erleben, wie sie Dinge unter Erwachsenenbedingungen erledigen. … Die Kinder lernen in … Kindergärten, Kinder zu sein. Aber nur zu Hause können sie lernen, was es bedeutet, erwachsen zu sein. Beide Aspekte sind wichtige Bestandteile einer guten Kindheit. (Jesper Juul: Essen kommen. Familientisch – Familienglück, Basel 2017, Seite 82)
Was kann man tun, wenn man keine Großtante Franziska hat:
- statt sich Zeit frei zu schlagen für aufwändige Kinder-Bespaßungs-Unternehmungen einfach zusammen etwas tun, was sowieso getan werden muss
- sich dabei nicht zu viel vornehmen, sondern mit Zeit und Muße zusammen etwas arbeiten
- es von Anfang an tun; wenn Kinder von klein auf daran gewöhnt sind, wird es Routine und alle profitieren später sehr davon (steigender Selbstwert des Kindes, Unterstützung für die Erwachsenen, Bindung mit oder ohne Reden)
- sich vom Perfektionismus verabschieden; ja anfangs wird einiges kaputt und daneben gehen; so what!
- den einen oder anderen Handgriff zeigen, aber nicht die ganze Zeit belehren; durch Nachahmen, Ausprobieren und Üben lernen Kinder von selbst
- besonders gut eignet sich das gemeinsame Kochen dafür (Tipp von Juul: Schüssel mit Rohkost bereit stellen, falls der Hunger zwischendurch zu groß wird)
- oder das gemeinsame Backen (vielleicht mal ausprobieren: Birgit Wenz: Kinderleichte Becherküche mit Backset 6-tlg. für Kinder. Bad Segeberg, 2016)
- sich einen Tritthocker anschaffen und in der Küche schnell greifbar haben
Bei uns waren es die Kinder von klein auf gewöhnt, dass wir zusammen samstags auf den Wochenmarkt gingen und heute noch gehen, um für das Wochenende Obst und Gemüse einzukaufen. Als sie Teenager wurden, war es natürlich freiwillig und sie sind lange Zeit nicht mitgekommen. Aber das Verrückte ist: Wenn der Kronprinz jetzt alle paar Wochenenden vom Studium nach Hause kommt, fragt er immer: „Geht ihr auf den Markt? Ich gehe mit.“
Immer fröhlich Kinder einbeziehen in die Arbeit von Erwachsenen!
Eure Uta
Hallo Uta,
Ich bin schon lange stille Leserin hier auf deinem Blog und heute traue ich mich auch mal zu kommentieren 😀
Der Text ist toll! Er hat so ein warmes Gefühl in mir ausgelöst, weil ich mich erinnert habe, wie meine Mutter mir das bügeln beigebracht hat oder ich mit meinem Vater im Vorgarten Unkraut gezupft habe und das in jungen Jahren. Es war nie aufgezwungene Arbeit, sondern ein stilles Nebeneinander, das ich bis heute in sehr guter Erinnerung habe. Wir sind eine große Familie (8 Kinder) und trotz all der Arbeit, die meine Mutter hatte, und daraus resultierend wenig Zeit, hat sie uns immer das Gefühl gegeben, ein Teil des großen Ganzen zu sein. Auch heute noch, wo die meisten von uns erwachsen und außer Haus sind, haben wir ein sehr enges Verhältnis untereinander und Familie hat für uns höchste Priorität. Das haben wir zum größten Teil unseren Eltern zu verdanken.
Und ich finde es toll, dass du durch deine Erfahrungen und auch das professionelle Wissen hier vielen Unterstützung in dieser Hinsicht bietest. Mir als relativ junge Mutter (1. Tochter 2 Jahre, 2. Tochter 1 Jahr) hast du durch deine bodenständige Art schon viel gegeben. Es ist nicht so „psychologisch aufgebauscht“. Weißt du, wie ich das meine? Vielen Dank dafür und mach weiter so!
LG Nell
??
Liebe Nell, ich habe keine Ahnung, warum bei meiner Antwort zwei Fragezeichen stehen. Deshalb möchte ich ein herzliches Dankeschön nachreichen. Ich weiß, was du meinst und freue mich riesig darüber. Herzliche Grüße und danke, dass du deine Geschichte mit uns geteilt hast, Uta
Dankeschön fürs Erzählen. Meine Oma und Tante Franziska hätten sich gut verstanden, die Ruppigkeit, die sie im Umgang mit ihren Leuten an den Tag legte, das Altersmilde werden und das gelbgebügelte Tuch sind sich überraschend ähnlich.
(Ich habe Häkeln von ihr gelernt und später, als ich peinlicherweise immer um 18:00h zu Hause sein musste, hat sie ohne viel Getue bei meinen Eltern angerufen und erklärt, dass es später geworden ist, weil ich noch bei ihr gewesen sei und ich mich nicht „herumgetrieben“ hätte… ähem…?
Da bin ich heute noch dankbar.
Es waren ihr auch 92 Lebensjahre vergönnt und ich trage sie seither in meinem Herzen, auf immer.
Liebe Grüße und danke nochmal
Kari
Liebe Kari, wie schön, dass du von deiner Oma geschrieben hast! Und wie schön, dass du jemanden hattest, der dir den Rücken gestärkt hat. Danke fürs Schreiben! liebe Grüße, Uta
So ein wundervoller Artikel!:)
…irgendwie passt er auch voll perfekt zu Annas Blog „Eltern vom Mars“, der neben diesem hier auch einer meiner Lieblinge ist….., das wohlige Gefühl beim Lesen der beiden ist einfach herrlich!:)
Dankeschön !
Liebe Grüße
Katrin
„Wohliges Gefühl beim Lesen“ – das freut mich sehr. Vielen Dank, liebe Katrin!
Genau mein Thema! Vielen Dank für diesen wunderbaren Beitrag. Ich finde es so wichtig, die Kinder bei den Alltagsdingen einfach dabei zu haben, ohne Anspruch, ihnen etwas beizubringen oder sie zu bespaßen. Es hat sowas von einer Landleben-Idylle mit Grossfamilie, die Kinder sind dabei und helfen mit, wo und wann sie wollen, irgendein Erwachsener hat schon Zeit für sie. Aber es klappt auch im Großstadtleben, man muss sich eben nur dafür entscheiden und sich von Perfektion und Hektik verabschieden.
Liebe Sabine, ja, das finde ich auch herrlich. Ich muss allerdings zugeben, dass ich vor ein paar Jahren, als unsere Kinder klein waren, noch nicht so die Ruhe dazu hatte als in diesem Jahr mit unserem Gastkind. Vielleicht ist das wirklich eine Frage von „Altersmilde“. Viele Grüße, Uta
Svea