Einst schrieb ich für eine Schweizer Zeitung über ein kleines Mädchen, das im Trennungskrieg der Eltern von seinem Vater entführt worden war. Über viele Monate war Monique in den USA verschollen. Ein halbes Jahr später wurde das Mädchen entdeckt und der Vater verhaftet. Die Mutter, eine gebürtige Schweizerin, kehrte mit dem Kind nach Zürich zurück. Ein Schweizer Gericht aber entschied, sie müsse das Kind in die USA zurückbringen. Aus Angst, ihr würde das Kind erneut genommen, tauchte die Mutter unter und floh mit dem Mädchen quer durch Europa.

Eine traurige Geschichte. Und ich hatte den Auftrag, sie zu erzählen.

Während der Recherchen war die kleine Monique stundenweise in meiner Obhut, weil ihre Mutter Anwaltstermine hatte oder zu einer Behörde musste. Mein Mann und ich glaubten, das traumatisierte Kind würde bei uns weinen oder randalieren, weil wir ihm völlig fremd waren. Aber nichts dergleichen.
Monique, damals drei Jahre alt, verhielt sich, als hätte sie schon immer bei uns gelebt. Sie spielte friedlich, kuschelte sich an uns, behandelte meine Schwiegereltern, die zu Besuch kamen, wie Oma und Opa, schmuste sogar mit ihnen.

Es war gespenstisch. Wir hatten plötzlich eine kleine Shirley Temple auf dem Schoß. Lockig, zuckersüß und ohne irgendeine Distanz zu Fremden.

Dieses Erlebnis fiel mir wieder ein, als ich in einem Buch des Bindungsforschers Karl Heinz Brisch las. Brisch erklärt die drei unterschiedlichen Bindungstypen:

  • Typ 1, die sichere Bindung:  Kind weint bei Trennung von Bezugsperson, lässt sich aber bei deren Rückkehr schnell wieder beruhigen
  • Typ 2, die unsicher-vermeidende Bindung:  Kind zeigt kaum Regung sowohl bei der Trennung als auch bei der Wiederkehr der Bezugsperson
  • Typ 3, die unsicher zwiespältig-ängstliche Bindung:  Kind weint bei Trennung und lässt sich bei Rückkehr der Bezugsperson kaum beruhigen, will Trost und tritt gleichzeitig um sich

Monique zeigte ganz klar das Typ2-Verhalten. Ein kleines Mädchen, das seine wahren Gefühle hinter einer einstudierten Fröhlichkeit verbarg.

Brisch schreibt über diesen Typ:

In den Augen der Bindungspersonen selbst sind diese Kinder nach außen autonom, zufrieden und können mit Trennungen hervorragend umgehen… ein Kind, wie es sich viele Eltern für das Säuglings- und Kleinkindalter wünschen. Sie können sehr rasch und wechselnd bei verschiedenen Personen – heute bei der einen Babysitterin, morgen bei der anderen – „deponiert“ werden….Aufgrund der Forschung wissen wir aber, dass diese Kinder nicht in sich ruhen und solche Trennungssituationen durchaus nicht stressfrei erleben.Genau das Gegenteil ist der Fall. Untersuchungen des Herzschlags und der Herzfrequenz sowie des Hautwiderstandes und auch die Messungen – zum Beispiel im Speichel – des Stresshormons Kortisol haben gezeigt, dass diese Kinder in Trennungssituationen genauso wie die bindungssicheren Kinder mit einer stressvollen Aktivierung ihres Körperbindungssystem reagieren: Der Puls schlägt schneller und sie schütten deutlich Stresshormone aus. Im Unterschied zu sicher gebundenen Kindern haben bindungsvermeidende Kinder bis zum Ende des  ersten Lebensjahres aber bereits gelernt, solche … Bindungssignale nicht nach außen zu zeigen. (Karl Heinz Brisch: SAFE, Sichere Ausbildung für Eltern, Stuttgart 2010, S. 44/45)

Das ist furchtbar, oder? Noch kein Jahr alt und schon ein Pokerface.

Monique hatte rasant schnell gelernt, sich an die Welt der Erwachsenen anzupassen. Und diese Welt  war furchtbar für sie: monatelang war für sie die Mutter verschwunden, dann wieder der Vater. In sieben oder acht verschiedenen Krippen oder Kindergärten musste sie sich eingewöhnen und an plötzlich auftauchende Babysitter. Die beste Strategie war für sie, schon als Baby ihre wahren Gefühle zu verbergen und pflegeleicht zu sein.

Sieben oder acht Kitas in weniger als drei Jahren.                                 Foto: Kronprinz (15) beim Sozialpraktikum

Nach dem Erscheinen meines Artikels über diesen transatlantischen Krimi hatte ich keinen Kontakt mehr zu Monique und ihrer Mutter. Deshalb kann ich euch leider nicht schreiben, wie die Geschichte ausgegangen ist.

Wenn ihr aber Probleme habt, euer Kind in einer Krippe oder an eine neue Tagesmutter zu gewöhnen, kann die Geschichte von Monique eure Probleme relativieren.

Euer Kind weint, wenn ihr geht? Es beruhigt sich bald nach eurer Rückkehr?
Dann habt ihr ein bindungssicheres Kind.

Gebt ihm viel Zeit, sich zusammen mit euch in eine neue Situation einzugewöhnen. Das ist eine Investition, die sich lohnt.

Jetzt klinge ich wie eine Versicherungsvertreterin und höre liebe auf.

Immer behutsam eingewöhnen

Uta

    • Danke für die Anerkennung. Ich glaube zwar auch, dass Blogs und neue Formen immer wichtiger werden. Aber mal z.B. ein eigenes Buch in Händen zu halten, wäre eine große Freude.

      Liebe Grüße

      Uta

  • Was soll das heißen „nur Blog“. Blog ist die Zukunft weiß doch jeder.

    Und dass meine Kinder Typ1 Kinder sind wusste ich eigentlich auch schon, aber trotzdem eine sehr wertvolle Erinnerung. Wie das oft gefeiert wird, wenn Kinder mit Umständen, die eine Belastung für sie sind, gut zurecht kommen, finde ich schon manchmal …mühsam.

    Ich finde es sehr schön, dass es diesen Blog gibt und er bietet sehr viel Bereicherndes im Alltag mit Kindern. Immer wieder gerne, weiter so, ganz groß!!!

    • Sorry, dass das so lange gedauert hat. Die email steht im Impressum. Kommentieren kann man, wenn man den Artikel direkt anklickt. Ich würde das gerne ändern, aber das geht irgendwie nicht. Scheint ein bug zu sein (der nur einige betrifft), den zu beheben ich zu dumm bin. Also muss ich warten bis blogger sich der Sache annimmt. Sorry deswegen.
      Freut mich sehr, wenn Du manchmal bei uns vorbeischaust. Obwohl ich ja kindermäßig besser zu Dir aufschauen kann, meine sind ja noch klein 🙂

      Liebe Grüsse,
      Julia

  • Hallo Uta,
    ich lese Ihr Blog von Zeit zu Zeit und fühle mich auch gut unterhalten. Beim heutigen Beitrag bekomme ich allerdings komische Gefühle. Meine kleine Tochter ist sehr offen und kommt mit fremden Menschen/Situationen gut zurecht. Sie schmust auch gerne mit Oma und Opa, die sie sehr selten sieht. Das Eingewöhnen bei ihrer Tagesmutter hat vor einem Jahr mit einem Fingerschnipp geklappt. Sie freut sich wenn ich gehe und wenn ich wiederkomme. Sie ist zwei Jahre alt. Mein Sohn, heute sechs Jahre alt, hat und hatte es nie so leicht. Einen geplanten Aufenthalt von zwei Nächten bei Oma und Opa mussten wir nach Übernachtung Nr Eins abbrechen (Heimweh), in der Kita und bei der Tagesmutter zuvor hat er immer viel geweint. Er ist ein schüchterner Mensch. Ich habe beiden Kindern nie die Herzfrequenz gemessen, Speichelproben auch nicht abgenommen.
    Ohje, jetzt kann ich meine Kinder nicht in eine der drei Schubladen einsortieren und weiß nicht, wann und weswegen ich ein schlechtes Gewissen haben soll.
    Ich finde: Vorsicht mit solchen Typisierungen!
    Schönen Gruß, Birgit

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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