Heilt die Partnerschaft, heilt das Kind 

 27/07/2018

Interview mit Eva-Maria Zurhorst über die Suche nach sich selbst, nach der Liebe zwischen zwei Menschen, über nackte Gefühle und die Abnabelung von der Herkunftsfamilie.

Heute freue ich mich sehr, Eva-Maria Zurhorst auf meinem Blog zu Gast zu haben. Sie ist die Autorin des Bestsellers „Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest“ sowie zahlreichen weiteren Büchern.

Eva-Maria Zurhorst, Foto: privat

Mit ihrem Mann Wolfram Zurhorst zusammen arbeitet sie als Paar-Coach. Die beiden gehören zu den bekanntesten Beziehungs-Spezialisten Deutschlands.
Was Eva-Maria in „Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest“ über ihren katastrophalen Ehe-Start, ihr Leben und ihr Vertrauen in Gott schreibt, hat mich sehr berührt. Seit ich das Buch vor wenigen Monaten endlich gelesen habe, gehört es zu den zehn Büchern im Stapel neben meinem Lesesessel, aus denen ich regelmäßig früh morgens einige Zeilen lese und mich für den Tag ausrichte.
Deshalb habe ich mich besonders gefreut, als ich während unserer Kanada-Reise plötzlich ihre Interview-Zusage in meinem Mail-Ordner fand. Ich wollte unbedingt mit ihr darüber sprechen, welchen Einfluss die Beziehungsqualität der Eltern auf die Kinder hat. Was lässt sie den Satz sagen, dass wenn wir unsere Partnerschaft heilen auch unsere Kinder darin heilen können? Was genau meint sie damit? Und wie kann das gelingen?
Aber lest selbst. Hier kommt mein Interview (Trommelwirbel) mit Eva-Maria Zurhorst:

Uta: Liebe Frau Zurhorst, bei den ganzen Lebensformen, die wir heute haben: Eltern verheiratet, nicht verheiratet, Patchwork oder Frauen, die ein Kind wollen, aber keinen Partner … Wie bedeutsam ist es für ein Kind, eine Mama und einen Papa in einer stabilen Partnerschaft zu haben?
Eva-Maria: Das weit Wichtigste ist eine stabile Mama, die im Frieden ist mit dem Papa, und ein stabiler Papa, der im Frieden ist mit der Mama. Aber um in diesen Zustand von gegenseitiger Akzeptanz zu kommen, da gibt es viele Möglichkeiten, zusammen oder auch nicht zusammen zu leben. Die Prägung des Kindes in Sachen Beziehung findet – das sagt die Wissenschaft – zu unglaublichen 80 Prozent im Alter von Null (beziehungsweise schon in der Schwangerschaft) bis drei Jahren statt. Das Kind lebt immer von dem, was wir fühlen und sind. Und nicht von dem, was wir sagen. Das heißt: wenn ich in einer Beziehung bleibe, die mir überhaupt nicht gut tut und ich mich immer gestresst fühle, latent eine Wut habe, latente Frustrationen, Ohnmacht … dann kommt alles beim Kind an. Das Kind ist nicht ein kleines dummes Kind, schon gar kein dummes Baby, sondern ein hochsensibles Wesen. Es hat nur keine intellektuelle Verarbeitung von vielen Dingen. Das Kind nimmt alles auf. Und je kleiner, desto mehr. Wie die Pflanze Wasser, Licht und Dünger braucht, braucht das Kind, dass es mir als Mama oder Papa gut geht, dass ich in der Liebe bin und dass ich das ausstrahle. Die Umstände, die dazu führen, sind nicht wichtig, Komma, aber Doppelpunkt: Das, was am meisten zu Liebe führt, ist eine stabile Bindung zwischen zwei Menschen.
Uta: Lange war es üblich, dass Paare der Kinder wegen zusammenblieben. Ist das keine gute Idee?
Eva-Maria: Etwas vorzuspielen, ist für das Kind alles andere als hilfreich, weil es die eigene Navigation zerstört. Das Kind hat eine innere Navigation, die ihm signalisiert: Achtung: Gefahr! Achtung: Liebe! Achtung: Irgendwas! Wenn sein Unterbewusstsein spürt „Disharmonie“ und „Stress“, ich ihm aber sage: „Ne, ne, alles bestens!“, dann nehme ich ihm seine eigene Navigation, dann hört es irgendwann auf, sich selbst zu vertrauen. Und das ist extrem verwirrend.
Das Zweite ist, dass das Kind Kommunikation von mir braucht, wenn ich mich nicht glücklich fühle in einer Beziehung. Kommunikation etwa in der Form: „Der Mama geht es so nicht gut mit dem Papa.“ und dass ich anfange, das zu übersetzen in die Situation des Kindes. Zum Beispiel zu sagen: „Aus dem Kindergarten oder aus der Schule kennst du das doch sicher auch, …“ Dass ich also anfange, mein Kind anzuleiten für das Leben. Denn das Leben wird meinem Kind sicher schmerzliche Erfahrungen mit anderen Menschen bringen. Und was ich tun muss als Eltern ist nicht, mein Kind auf das Schlaraffenland vorzubereiten, sondern ihm den Umgang mit Schmerz zu vermitteln.
Das sind Verletzungen, Verlassenheitserfahrungen, Einsamkeitserfahrungen. Indem wir unseren Umgang damit bewusst leben, in dem Maße bringen wir das unseren Kindern bei. Das ist unsere wichtige Aufgabe als Eltern, in einer gewissen Präsens mit dem Leben zu lernen, was alles nicht so perfekt ist.
Uta: Wenn ich eine junge Mama bin und merke, in meiner Beziehung knirscht es sehr, dann habe ich ja leider meist noch nicht die Abgeklärtheit, so stabil zu sein, wie Sie das am Anfang beschrieben haben, stabil zu sein als Mama, stabil zu sein als Papa, oder?
Eva-Maria: Nein, nein! Aber wenn ich mir das zum Ziel setze, in meine Stabilität zu kommen, statt um jeden Preis mich an irgendeinem perfekten Klischee entlang zu hangeln, dann habe ich eine ganz andere Navigation. Klar, gerade wenn das erste Kind kommt, ist gar nichts mehr in Mittellage. Das ist ein ganz besonderer Einschnitt. Das ist einer der Hauptscheidungsgründe, die Geburt des ersten Kindes, weil wir aus unserem eigenen inneren Sein komplett herausgeholt werden als Frau. Nichts ist mehr so wie vorher. Aber auch für den Mann. Ein Paar geht da durch eine komplette Metamorphose. In dieser Zeit ist es wichtig, in einen erhöhten Lernmodus zu gehen und sich zu sagen: Achtung! Hier geht nichts mehr mit Gewohnheit, hier ist alles neu. Was so vieles kaputt macht, ist unsere idealisierte Vorstellung vom jungen Glück. In der Phase mit Säugling komme ich kaum zum Schlafen, da kann ich mich nicht selber bestimmen, da werde ich den ganzen Tag „kommandiert“ von so einem kleinen Wesen, das seine Bedürfnisse hat. Und meine Bedürfnisse muss ich immer hinten anstellen. Zudem habe ich als Frau völlig umgestellt auf den gebenden Körpermodus, so einen mütterlich liebenden Körpermodus. Das kollidiert dann mit dem männlichen Partnerschaftsbedürfnis. Das kann ich alles besser händeln, wenn ich meinen inneren Wahrnehmungen vertraue und darüber spreche, statt zu sagen: „Wir müssen es jetzt gut haben und ich muss jetzt die perfekte Mutter sein und Lust auf Sex haben und und und …“ Das führt mich in die Schieflage.
Uta: Was kann dann helfen ganz konkret? Ich erinnere aus ihrem Buch ihre eigene Situation mit der kleinen Tochter und der Krise und dass dann geholfen hat, ein wenig Abstand zu gewinnen von Ihrem Mann. Ist das richtig?
Eva-Maria: Ja, auf Abstand gehen, aber vor allem mehr zu mir gehen. Und loslassen von dem Mann, der alles komplett anders macht und von dem ich mich völlig allein gelassen fühle. Aus meiner heutigen Sicht kann ich sehen, dass mein Mann seinem Druck nach gegangen ist, alles hin zu kriegen, super gut zu sein, die Familie zu ernähren, … Ich kenne ganz viele junge Mütter, die fühlen sich komplett im Stich gelassen von ihrem Mann. Und er spürt das alles gar nicht. Klassische Situationen sind, dass der Mann nicht nach Hause kommt, sich nicht kümmert ums Paar-Sein oder lauter Sachen macht, die die Frau gar nicht gut findet. Dann hilft es nicht, wenn ich die ganze Zeit nörgelnde Szenen mache, und es hilft genauso wenig, wenn ich alles aushalte. Sondern dann hilft es, irgendwann los zu lassen und zu gucken, wie ich die Situation verändern kann. Wichtig ist dann auch, bei sich genauer hin zu schauen und sich zu fragen: Ist das wahr, dass ich so gerne die immer perfekte Mutter bin, so gerne das alles händel, so gerne nicht schlafe, so gerne ferngesteuert bin … oder ist es vielleicht wahr, dass ich auch ein Stückchen Freiheit brauche und mir noch nicht erlaube; dass ich da dann erst mal anfangen muss – auch wenn es ganz, ganz schmerzlich ist – , mir Freiräume zu schaffen, auch Grenzen dem Kind gegenüber zu setzen? Ich kenne so viele Mamas, die liegen jeden Abend mit dem Kind im Bett, weil sie sagen, „das Kind braucht das, sonst schläft es nicht“. Das Kind braucht dieses und das Kind braucht jenes. Vom jedem kleinen Wesen geht ein unendliches Brauchen aus, aber dieses unendliche Brauchen ist in der Tiefe nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass jeder Mensch alle Liebe und Verbundenheit in sich trägt und lernen muss, diese Verbindung zu entdecken. So ist mein Job als Mutter nicht, allem nachzugeben, sondern aus meiner eigenen Liebe heraus da zu sein und meinem Kind Grenzen zu setzen, wo es anfangen kann, aus sich selbst zu schöpfen. Es geht nicht um die Quantität als Mutter. Ich kenne so viele Mütter, die stillen und hängen gleichzeitig am Handy, gucken in der Gegend rum, sehen fern oder machen irgendwas. Damit tue ich meinem Kind keinen Gefallen. Aber wenn ich sage, „jetzt bin ich da“ oder aber auch „jetzt ist Ende“, dann spürt das Kind sofort, ob ich in einer klaren Ausstrahlung oder in einer klaren Grenze bin. Wenn das Kind vorher genährt war und ich wirklich da war, kann es gut akzeptieren, dass jetzt Schluss ist mit Vorlesen oder spielen oder was auch immer.
Uta: Das mit dem unendlichen Brauchen ist ein guter Einwurf, weil es seit einiger Zeit so viele Blogs und Bücher zum Thema „bedürfnisorientiert Erziehen“ gibt .
Eva-Maria: Was ist damit gemeint?
Uta: Dass man sich quasi komplett nach dem Bedürfnis des Kindes ausrichtet.
Eva-Maria: Entschuldigung, aber das Kind wird unendlich wollen. Und klar, fühlt sich das erst mal angenehm an, wenn alles zu mir kommt. Das wollen Sie und ich auch, dass alles um uns herum perfekt läuft und jeder uns gibt, was wir brauchen. Aber so ist das Leben nicht. Die Realität des Lebens ist, dass ich lerne, die Quelle der Liebe und des Haltes in mir selbst zu finden. Und das passiert in einem „Fine-Tuning“ so über die Jahre. Wenn ich mich als Mutter verliere und verlasse und aufopfere, dann bekommt das Kind in dem Moment nichts Gescheites von mir. Aber wenn ich für mich sorge und zu einem Kind sage „Stopp!“, dann bekommt das Kind etwas Substantielles von mir. Glauben Sie mir, in meiner Arbeit ist einer meiner Hauptjobs, erwachsene Menschen zwischen 40 und 70 von ihren Eltern abzunabeln. Die sind nicht in der Lage, für sich zu sorgen, die sind total bedürftig, die klammern, die rennen weg, die können nicht in sich Halt finden. Da können Sie mich in jedes Streitgespräch bringen mit Menschen, die – wie heißt das? – bedürfnisorientiert erziehen, da bin ich sofort auf 180. Das heißt aber überhaupt nicht, dass ich irgendwelche strengen Regeln oder kaltherziges Benehmen gegenüber Kindern propagiere. Es gibt ein ganz feines System zwischen Müttern und Kindern und das haben wir alle nicht mehr im Focus. Ich kriege sehr genau mit, wann das Kind beginnt, sich sozusagen vollzusaugen und wann das Kind Liebe, Nähe und Kontakt braucht.
Uta: Mit Vollsaugen meinen Sie, uns mit Haut und Haaren auffressen, dass wir irgendwann nicht mehr können?
Eva-Maria: Genau.
Uta: Wenn ich aber so eine Mama bin, die noch nicht abgenabelt ist von ihrer Mama, dann bin ich komplett in einem verhängnisvollen Kreislauf, oder?
Eva-Maria: Ja. Sie müssen sich das so vorstellen: In dem Moment, in dem das Kind kommt, ist da jemand, der alles von Ihnen will. Und überall, wo in Ihnen ein Loch ist, wird das deutlich. Und überall, wo Sie nicht Grenzen setzen nach hinten in Ihre Herkunftsfamilie, wird es auch deutlich. Jetzt geht es massiv für ganz viele Leute darum, mit ihren Herkunftsfamilien (vor allen Dingen mit ihren Müttern!!!), Klärungsprozesse zu führen.
Uta: Was meinen Sie mit „überall, wo ein Loch ist“?
Eva-Maria: Ich nehme ein Beispiel aus meinem Leben. Meine Tochter kam auf die Welt. Ich war darauf vorbereitet, die beste Mutter der Welt zu werden, hatte tausend Bücher gelesen, saß mit ihr am Sandkasten und erlebte, dass ich mich wie gelähmt fühlte. Die anderen Mütter saßen mit in diesen Sandkisten, hatten Förmchen in der Hand, bauten alles Mögliche mit ihren Kindern. Und ich saß da wie apathisch und ich merkte, ich kann das nicht und ich habe mich total beschuldigt, was ich für eine schlechte Mutter bin, die nicht mit ihrem Kind spielen mag. Irgendwann bin ich immer weiter in dieses Gefühl hineingegangen und spürte unter vielen Tränen, dass ich mit meinem Kind nicht spielen konnte, weil niemand mit mir gespielt hatte. Das meine ich mit einem Loch. Jetzt versucht man, sich zu opfern, und tut so, als ob man spielen mag. Das funktioniert nicht.
Uta: Wie kriege ich dieses Loch gestopft?
Eva-Maria: Indem ich anfange zu fühlen, dass da nichts ist. Zurück zu meinem Sandkasten-Beispiel. Als ich diesen Schmerz wirklich gefühlt habe, da wurde ich weicher, ich bekam Mitgefühl für mich selbst. Und „Zack“! war eine andere Beziehung zu meinem Kind da.
Uta: Was das schon ausmacht, wenn man in Kontakt dazu kommt, was genau in einem rumort!
Eva-Maria: Ja, genau.
Uta: Wenn ich mir das so vergegenwärtige, ist das ja eine unglaubliche Zeit, die Zeit, in der man zum ersten Mal Mama wird! Dann hat man das noch an der Backe mit der eigenen Vergangenheit und den Löchern, über die wir gerade gesprochen haben, und dann habe ich noch eine Partnerschaft und einen Mann, für den das auch alles neu ist mit dem Kind. Das ist schon der Hammer, diese Zeit.
Eva-Maria: Genau. Das ist eine absolute Ausnahmesituation. Und wenn man erst einmal anerkennt, dass das eine absolute Ausnahmesituation ist, dann geht es sofort leichter. Wenn ich so tue, als würde ich in einen Robinson-Club fahren, in Wahrheit bin ich aber in der Wüste, dann bekomme ich viel größere Probleme, als wenn ich mir eingestehe, ich bin gerade in der Wüste. Ich sitze ganz oft mit jungen Paaren hier. Und dann sagen die Männer, der Sex läuft nicht mehr so wie früher, und ich sage „Hallo?! Haben Sie mitgekriegt, dass sich etwas verändert hat in Ihrem Leben als Paar?“ Die Frauen aber wollen immer noch all ihren Ansprüchen gerecht werden.
Wir leben so stark in Erwartungen und Vorstellungen. Da ist kaum jemand bereit hinzugucken, was gerade wirklich läuft. Gerade in dieser Phase mit dem ersten Kind gibt es ganz viele kompensatorischen Sachen. Bei den Männern zum Beispiel, dass sie wie verrückt anfangen, nach Anerkennung zu suchen bei einer Frau, die sowieso schon komplett leer ist. Oder sie machen sich ganz aus dem Staub, um Anerkennung und ihr gewohntes Mann-Sein da draußen im Job oder sonst irgendwo zu suchen. Was es dann braucht, ist Kommunikation, dass sich zwei hinsetzen und den Mut finden, sich zu erzählen, wo sie gerade sind. Aber aus einem Nicht-Wissen heraus. Zum Beispiel so zu beginnen: „Ich kann es dir auch nicht sagen, aber ich kann das so nicht oder ich brauche jenes oder ich habe Angst vor… „Ich war zum Beispiel eine Öko-Mutter. Immer musste es dieses zu essen geben oder jenes durfte es nicht. Und meinem Mann, dem war das egal. Dann gab es Krieg. Los zu lassen und diese Unterschiedlichkeit zu erlauben, das ist ganz wichtig für die Entwicklung des Kindes, das in einer Bandbreite aufwächst und nicht in einem Dogma. Männer möchten keine Öko-Mutter werden und dürfen ruhig mal ein Gegenprogramm leben. Das macht Kinder frei. Und von einem ungesunden Hamburger mit Spaß sterben sie nicht.
Das muss sich alles einspielen. Meist ist es so, dass die Kinder kommen, ehe sich beide weder selbst noch als Paar richtig kennen. Da tut es gut zu wissen: das ist eine Ausnahmesituation und die „triggert“ ganz viele Dinge, die bisher im seichten Gewässer ohne Kinder gar nicht an die Oberfläche gekommen sind.

Sich als Papa in die Situation hineinfinden. Bild von Pexels

Uta: Wenn ich an die Geburtsvorbereitungskurse zurückdenke, dann erinnere ich, dass man da lernt, richtig zu atmen, eine gute Klinik zu erkennen und alles Mögliche. Aber wie man als Paar nicht die Nähe zueinander verliert, wenn man Eltern wird, das ist leider nicht Thema, oder?
Eva-Maria: Nein, überhaupt nicht. Wir lernen nichts über das Thema „Beziehung“, nichts über das Thema „Eltern werden“, aber wir kennen den Satz des Pythagoras. Ich weiß nicht, wann sie den das letzte Mal gebraucht haben.
Uta: Noch nie in meinem erwachsenen Leben. Wahnsinn, oder?
Eva-Maria: Ja, und da setzt meine Leidenschaft ein, weil es fatal ist, dass wir über das Menschsein und das Leben nichts lernen.
Uta: Ich muss Ihnen einen Fall aus meinem Freundeskreis erzählen. Nina, die Tochter einer Freundin, hat vor einem halben Jahr ihr erstes Baby bekommen. Kurz danach musste sie zu einem Eingriff noch einmal in die Klinik. Ihr Mann war in dieser Zeit bei der Kleinen. Kaum war Nina wieder zu Hause, hat ihr Mann sich von ihr getrennt. Es hieß, er könne das alles nicht: das mit dem Baby und mit der Erkrankung seiner Frau. Das ist natürlich für Nina und alle, die ihr nahestehen, höchst traumatisch. Ich habe Nina ihr Buch geschickt, in dem es darum geht, besser zu verstehen, wie solch ein familiärer GAU entstehen kann, in der Hoffnung, dass die Beteiligten Chancen für eine Heilung sehen. Es kann aber kaum jemand nachvollziehen, wenn ich sage, dass man den Mann nicht gleich vom Hof jagen muss.
Eva-Maria: Nein, der ist total in Panik. Der rennt einfach weg. Er hat nicht den Umgang mit schmerzlichen oder hilflosen Gefühlen gelernt. Schon dass er Vater wird, ist häufig für den Mann ein riesiger Stress, den er sich aber kaum bewusst macht. Und dann ist die Frau auch noch angeschlagen. Dann läuft er weg, weil er nicht gelernt hat, mit solch bedrohlichen Gefühlen umzugehen. Unser natürlicher Mechanismus ist dann Verdrängung und Dissoziation – das heißt, wir trennen uns einfach ab vom Schmerz. Das haben wir fast alle von Kind an als Überlebensmechanismus gelernt und das wenden wir später wieder wie automatisch an. Ich könnte ihnen aus dieser Phase „junge Paare und ihr erstes Kind“ reihenweise Geschichten erzählen: Männer, die direkt von der Entbindung zu einer Prostituierten gegangen sind, und und und. Immer wenn diese Angst kommt, ist der Impuls: Weglaufen. Und der nimmt dann solche absurden Formen an. Was es jetzt bräuchte, wäre, dass dieser Mann mit sich und mit seiner Frau in Kontakt kommt und sagen kann: „Hör mal, ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ich bin total in Panik geraten!“ Das hat er natürlich nicht gelernt. Da haut er ab und hat die Idee, wenn er sich scheiden lässt, dann wird er diese Angst los. Was natürlich vollkommener Quatsch ist.
Uta: Manchmal bekommen junge Mamas in solchen Situationen viel Unterstützung von ihren Eltern. Das ist schön. Besteht aber nicht die Gefahr, dass frau dann zurück geht in das alte System, statt für sich, für ihr Kind und vielleicht sogar für ihren Mann etwas Neues zu erschaffen?
Eva-Maria: Ja, alles, was ich am Anfang gesagt habe, können Sie sich an diesem Beispiel angucken. Was macht sie? Sie gerät vielleicht in die Situation, in ihrer Not zu sehr an Mama und Papa zu klammern. Sie hält fest wie ein Kind, er haut ab wie ein Kind. Und jetzt fängt das Leben an. Das kleine Baby, das aus der Verbindung entstanden ist, liegt da, ist komplett unschuldig und hilfsbedürftig und beide verziehen sich. Sie, als Mama, – das ist ja das Dilemma von uns Frauen – kann sich nicht wirklich verziehen. Aber wenn wir ehrlich wären, würden wir uns auch gerne verziehen. Das ist der Punkt, sich auch einzugestehen, ich würde nichts lieber tun, als meine Füße in die Hand zu nehmen und weg zu laufen von dem Leben als alleinerziehende Mutter, weg von dem Mann, der sich verdrückt. Und statt sich jetzt von Mama und Papa retten zu lassen, raus zu gehen und zu lernen, mit etwas umzugehen, was mich total überfordert, und daran zu wachsen. Das ist Beziehung und das ist Eltern-Werden. Das Kind wächst sonst in eine Angstsituation und in eine komplette Urteils- und Schuldqualität hinein. Das spürt das Kind. Und dann geht der Krieg los: der eine ist schuld, ist ein Schwein. Die andere ist die Arme. Und die ganze Zeit ist das Kind in diesem Feld. Was es jetzt bräuchte, wäre in sich hinein zu spüren, das „Nichts geht mehr!“ zu fühlen, aber auch durchzuatmen, sich die Hände zu reichen und in kleinen Schritten zu lernen, mit dieser scheinbar ausweglosen Situation umzugehen. Daraus erwachsen neue Kräfte, neue Strategien, neue Möglichkeiten, die man vorher gar nicht kannte, und auf einmal merkt man: „Wow, das bin ich! Cool!“ und „Wow, das sind wir! Noch cooler!“
Uta: Haben Sie als Beziehungs-Spezialistin viel zu tun mit jungen Eltern?
Eva-Maria: Immer mehr. In früheren Jahren waren es so alte Schachteln wie ich. Aber es wird immer mehr.
Uta: Sprechen wir auch noch über die Situation von Eltern, die schon größere Kinder haben und die nach Jahren das Gefühl haben, unsere Ehe befindet sich in einer ausweglosen Situation und die Scheidung ist schon eingereicht. Was können die tun, damit diese Situation für ihre Kinder nicht zum Trauma wird?
Eva-Maria: Die Situationen, die Sie beschreiben, das sind alles Situationen, die uns fordern, emotional zu wachsen. Wenn ich in einer Scheidung stecke, dann wechselt der emotionale Grundzustand meist zwischen aggressiv oder hilflos. Und irgendeiner muss schuld sein und dann habe ich auch noch Angst, ob ich auch genug Geld kriege, gerecht behandelt werde und, und, und…  Ich habe Angst vor der Zukunft. Das strahle ich unterschwellig aus und das kommt beim Kind an. Dann muss man sich klar machen: für das Kind ist es das Wichtigste, dass ich immer wieder zu mir finde.
Aber erst noch zu dem Kind. Das Kind müssen Sie sich vorstellen wie einen Baum mit zwei Wurzeln. Die eine Wurzel ist die Mutter, die andere Wurzel ist der Vater. Wenn die Mutter an der Wurzel „Vater“ sägt und der Vater an der Wurzel „Mutter“, dann kippt das Kind um. Ob ich darüber rede mit dem Kind oder ob ich das innerlich oder hinter verschlossener Tür mit Anwälten austrage, ist völlig egal. Was ich brauche, ist ein Ringen um Respekt für den anderen. Das Ringen mit mir, immer wieder zu sagen: „Das ist Mist, das tut mir weh!“ Aber auch zu sehen, das ist der Vater von meinem Kind und als solchen muss ich irgendwie meinen Frieden mit ihm finden. Mir wird dann klar, dass er das, was ich mir wünsche und was ich brauche, nicht geben kann. Das ist nämlich immer die Wahl, das so zu sehen: Der andere Mensch ist kein Schwein, der andere Mensch ist nicht in der Lage, das zu tun oder zu geben, was ich brauche. Das heißt nicht, mit einem Heiligen-Schein durch die Gegend zu laufen und plötzlich Verständnis für die ganze Welt zu haben. Aber danach ringen, in meinen Frieden zu kommen. Ich kann ihn super-scheiße finden und trotzdem üben, durchzuatmen und zu sehen, dass mein Kind seinen Papa lieben will. Das ist aber ein Übungsweg. Da besteht immer wieder die Gefahr, dass man da drüber hinweg geht und sagt: „Nein, alles bestens zwischen Papa und mir.“ Das meine ich nicht. Das Kind darf auch mein Ringen merken und merken, dass ich gerade total sauer bin. Das ist ein echtes Gefühl. Aber wenn ich diesen kalten Krieg führe und den anderen ständig verurteile, dann wird es fürchterlich für das Kind, dann säge ich die Wurzeln ab.
Uta: Verstehe ich das richtig? Nicht auf Friede-Freude-Eierkuchen machen, aber auch nicht auf der anderen Seite der Skala die heftigsten Kämpfe vor den Kindern ausfechten, oder?
Eva-Maria: Genau. Das auf keinen Fall. Und meine ganzen inneren Haltungen sind wichtig.
Uta: Wenn ich immer bespreche, wie es mir gerade geht, besteht dann nicht die Gefahr, dass ich die Kinder als Partner-Ersatz in mein Boot ziehe?
Eva-Maria: Nein, nicht immer besprechen. Um Gottes willen. Da habe ich mich falsch ausgedrückt. Bloß nicht ständig besprechen. Es gibt ja auch Stunden, in denen ich gar nicht mit dem Thema beschäftigt bin. Aber wenn ich gerade innerlich schwer arbeite und mit meiner Wut kämpfe, dann muss ich wissen, dass das beim Kind ankommt auf einer subtilen, unbewussten, unterschwelligen Ebene. Das verunsichert mein Kind. Ich kenne so viele Kinder, die die ganze Zeit nur damit beschäftig sind, genau zu gucken, dass sie ja nicht einen von beiden zu viel lieben, dass sie immer austarieren. Im nächsten Schritt fangen sie dann damit an, was Sie gerade angesprochen haben, dann entwickeln sie sich zum Partner eines Elternteils. Angenommen, da gibt es etwas, was der Vater der Mutter nicht gibt, dann geht der Sohn in diese Lücke und fängt an, sich um Mama zu kümmern. In dieser Woche hatte ich einen Mann hier, der ganz früh angefangen hat, seiner Mutter Kaffee zu kochen. Er hat ganz früh sie und ihre Bedürfnisse „abgescannt“, hat das aber gar nicht gemerkt. Kinder tun das ja nicht bewusst. Die wachsen in diese Löcher rein. Das Wichtige ist, dass ich das weiß, und dann kommt gleich die nächste Herausforderung, mich dafür nicht zu beschuldigen, weil ich kriege es eh nicht geregelt, überall plötzlich heilig, entspannt und in innerer Balance zu sein. Ich muss nur den Weg und das Ziel kennen. Das ist alles.
Uta: Praktisch sieht das dann so aus, dass ich nicht mit meinen Kindern bespreche, was Papa jetzt alles wieder Schlimmes gemacht oder gesagt hat, sondern dass ich, wenn ich innerlich so im Aufruhr bin, das nur mitteile und sage: „Du ich bin gerade so sauer auf Papa, ich kann jetzt nicht „Memory“ spielen“, oder?
Eva-Maria: Genau das. Das perfekte Beispiel. „Ich bin gerade richtig sauer!“ Und wenn sie ein nacktes Gefühl zeigen, darf das Kind auch ein nacktes Gefühl haben und kann irgendwann auch sagen: „Weißt du, wenn du sauer auf Papa bist, dann geht es mir immer so schlecht.“ Das Kind lernt, seinen eigenen emotionalen Zustand mitzubekommen und auch auszudrücken und zu sagen: „Ja, weißt du, mir geht es ja auch schlecht in dieser Situation.“ Und dann drücken sie sich gegenseitig und gut ist.
Uta: Sie schreiben in Ihrem Buch den schönen Satz: „Heilen wir … unsere Partnerschaft, heilen darin automatisch unsere Kinder.“ Können Sie zum Abschluss noch etwas dazu sagen?
Eva-Maria: Ja, die Partnerschaft wird mir garantiert lauter Situationen bringen, in denen ich mich frage: „Oh, Gott, ist dies hier alles richtig? Hätte ich nicht doch einen anderen wählen sollen?“ In den allermeisten Fällen habe ich nicht den Falschen. Zwar gibt es auch die Fälle, in denen es ganz wichtig ist, dass ich endlich „Stopp!“ sage und gehe. In den allermeisten Fällen aber geht es darum, dass ich lerne, Grenzen zu setzen, für mich zu sorgen, konfliktfreudiger zu werden. So viele Paare sind komplett in Harmonie-Sauce ertrunken. Es geht darum, mich zu trauen zu sagen „Nein!“ und „Ich will das nicht!“, „Ich möchte das so!“ und dafür zu gehen und dann aber auch wieder zu lieben. Und zum Beispiel beim Sex zu sagen „Nein, das gefällt mir nicht, das fühlt sich nicht gut an!“, und trotzdem Signale zu geben „Aber ich möchte Nähe zu dir, ich brauche nur etwas anderes. Lass es uns zusammen herausfinden.“ Diesen Weg zu gehen, das heilt unsere Kinder, das stabilisiert unsere Kinder. Denn so erlebt mein Kind, wie ich wachse, es erlebt, wie wir zusammen wachsen, und es erlebt, wie es selber darin wachsen darf.

*

Liebe Frau Zurhorst, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch und ganz viel Freude und Erfüllung bei Ihrer Arbeit!
Hier ein Link für alle, die sich noch intensiver von Eva-Maria Zurhorst inspirieren lassen möchten:

  • Seit einiger Zeit gibt es von den Zurhorsts den Podcast „Liebe kann alles“: http://www.zurhorstundzurhorst.com/podcast/

Immer fröhlich sich auf den Weg der Heilung begeben,
eure Uta

  • Kompliment für dieses sehr lesenswerte Interview.
    Ich habe es mir direkt mal ausgedruckt.
    Besonders gut gefallen mir die Sätze: „Wenn du Mutter an der Wurzel Vater sägt und der Vater an der Wurzel Mutter, dann kippt das Kind um. Auch wenn das hinter verschlossenen Türen geschieht.“
    Oder auch: „Die Realität des Lebens ist, dass ich lerne die Quelle der Liebe und des Haltes in mir selbst zu finden.“
    Viele kluge Sätze von einer klugen Frau.
    Danke dafür.
    Christina

  • Ein tolles Interview.
    Allerdings finde ich den Part zur bedürfnisorientierte Erziehung falsch dargestellt. Ich habe mich sehr viel damit beschäftigt und dazu gelesen. Bedürfnisorientiert bedeutet doch eben nicht sich komplett nach den Bedürfnissen des Kindes zu richten! Bedürfnisorientiert, orientiert sich eben an den Bedürfnissen ALLER in der Familie. Es geht eher darum alle Bedürfnisse abzuwägen, welches hat Vorrang bzw wie kann ich den Bedürfnissen aller im Idealfall gerecht werden. Finde das wirft leider hier irgendwie ein schlechtes bzw falsches Licht auf bedürfnisorientierte Erziehung, finde ich schade.
    Ansonsten bin ich wie immer begeistert 😉
    Danke liebe Uta

  • Hier meldet sich noch eine befürfnisorientierte Mama.
    Ich lese dich so gerne, Uta, weil du mich immer wieder auf den Teppich bringst mit deinen wunderbar logischen, nachvollziehbaren Gedanken.
    Gerade deshalb stört mich persönlich dieser Teil des Interviews sehr.
    Karina hat es perfekt auf den Punkt gebracht.
    Nur wenn ich meine eigenen Bedürfnisse sehe und ernst nehme, kann ich meinem Kind das gesund vorleben.

  • Was für ein total erhellendes Interview! Vielen, vielen Dank!!! Auch für die Links vielen Dank – aber ich warte ja auch noch auf deinen Podcast, Liebe Uta:-).

  • So ein tolles und bereicherndes Interview, vielen Dank!
    Ich hab mich total in der nicht spielen wollenden Sandkasten-Mutti wieder erkannt. Ich spiele auch nicht gerne mit meinen Kindern (Skandal) und hab jetzt erst verstanden, dass es von meinen Eltern kommt, die aufgrund ihrer Selbstständigkeit nie mit mir gespielt haben. Danke dafür. Es hilft mir enorm, wenn ich verstehe warum ich reagiere, wie ich reagiere.
    Lieben Gruß
    Jelena

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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