Das gewünschteste Wunschkind-Buch 

 04/04/2018

Besprechung des zweites Bandes von Katja Seide und Danielle Graf

Meine liebste Form, Bücher zu besprechen, ist, aus dem Kopf aufzuschreiben, was im selbigen hängen geblieben ist, nachdem die finale Lektüre ein paar Tage her ist. Auf diese Weise kann ich am besten testen, was mich am meisten berührt hat und was ich daraus mitnehme für meine Familie und für die Familien, die ich begleite.
Hier kommt meine ganz persönliche Zusammenfassung des neuen Buches von Katja Seide und Danielle Graf  „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Gelassen durch die Jahre 5 bis 10“:

  • Ihren Ansatz beschreiben Seide und Graf als bedürfnis- und beziehungsorientiert. Im ersten Buch hatte ich damit zu kämpfen, dass mir die Bedürfnisorientierung an mancher Stelle zu weit ging. Ich habe an mir selbst erfahren, dass Eltern total ausbrennen, wenn sie jedem Bedürfnis ihres Kindes gerecht zu werden versuchen. Deshalb hat mich beruhigt, im zweiten Band zu lesen, dass die Autorinnen „Struktur erfahren“ auch als kindliches Bedürfnis anerkennen. Eine Mama hatte ihnen geschildert, wie wenig sie damit zurecht kommt, ihren Sohn entscheiden zu lassen, wann er ins Bett geht. Darauf die Antwort der Autorinnen: Dass Eltern ihren Kindern bei Bedarf Struktur geben, sei auch ein kindliches Bedürfnis. Im Fall des Jungen sei es also bedürfnisorientiert, wenn die Mutter ihm sagt, wann er schlafen gehen soll.
  • Gut gefallen hat mir besonders die Unterscheidung zwischen Wunsch und Bedürfnis, die nun auch Seide und Graf vornehmen. Schon bei Jesper Juul in „Essen kommen. Familientisch – Familienglück“ bin ich auf den Satz gestoßen: „Kinder wissen fast immer, wozu sie Lust haben. Wie jedoch ihre realen Bedürfnisse aussehen, wissen sie in den ersten zwölf bis vierzehn Jahren nicht so genau.“ (Seite 43) Bedürfnisorientierte Erziehung bedeutet folglich nicht, unseren Kindern jeden Wunsch zu erfüllen und ihnen keinerlei Frust zuzumuten, sondern darauf zu achten, dass ihre Grundbedürfnisse befriedigt werden. Als Grundbedürfnisse nennen Seide und Graf unter anderem: Authentizität und Integrität, Selbstwirksam sein, eigene Entscheidungen treffen, wertgeschätzt werden, ein Ziel haben, Geborgenheit, Gefühle ausleben, Struktur erleben. Ihr Aufruf an die Eltern:  Sie sollten „bei auffälligem Verhalten Ihrer Kinder sofort an unerfüllte Bedürfnisse und möglicherweise ungünstige Strategien … denken, statt: ‚Sie wollen uns auf dem Kopf rumtanzen!‘ Oder: ‚Das haben wir nun von deiner weichen Erziehung!‘ Schauen Sie hinter das Verhalten, statt nur auf die Symptome zu achten.“ (Seite 72)
  • Wenn „Struktur erleben“ ein Bedürfnis ist, dann sind nur auch viele Eltern wieder ratlos: „Sollte ich hier nachgeben?“ – „Handelt es sich um einen Wunsch oder ein tiefer gehendes Bedürfnis?“ – „Sollte ich in dieser Situation als Führungskraft voranschreiten oder der Kompetenz des Kindes vertrauen?“ Welche Mama oder welcher Papa kann über solche Fragen nachsinnen, wenn das älteste Kind gerade einen Wutanfall über den Mathe-Hausaufgaben hat und das Jüngste zeitgleich im Bad eine Überschwemmung anrichtet? Deshalb ist es so hilfreich, dass auch Band II von „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ fast jede Erkenntnis an Beispielen veranschaulicht. Katja erzählt Alltagssituationen mit ihren eigenen Kindern sowie Erlebnisse aus ihrem Beruf als Sonderpädagogin. Zudem schildern die Autorinnen Fälle aus ihrer Beratungspraxis. Da ist die Erstklässlerin, die abends ihren ganzen Schulstress an den Eltern ablässt, oder der Vater, der nicht mehr weiß, welches Essen er seinem wählerischen Sohn noch vorsetzen soll, oder die Mama, die ihr Kind für Smartphone-süchtig hält, oder der Vater, der seinem Sohn Sozialverhalten auf dem Spielplatz beibringen will, sich dabei aber höchst widersprüchlich verhält …
  • Wertvoll ist für mich Seides und Grafs Herleitung, warum Kinder in der Zeit rund um ihre Einschulung so übellaunig werden können und warum sie die Erfahrung brauchen, kleine Gefahren zu überwinden, um wieder in sich zu ruhen. Die Autorinnen greifen die Untersuchungen von Ellen Sandseter, Professorin für Psychologie an der Universität im norwegischen Trondheim, auf, die zum Thema „risikoreiches Spiel“ geforscht hat. Diese stellte fest, „dass sich alle Kinder dieser Welt von ganz bestimmten Herausforderungen beziehungsweise Gefahrenfeldern angezogen fühlen: von den Naturelementen, von großen Höhen, von Schnelligkeit, gefährlichen Werkzeugen, von Jagd-, Versteck- und Kampfspielen sowie davon, unbekanntes Terrain zu entdecken.“ (Seite 136) Leider haben unsere rund um die Uhr beschulten und betreuten Kinder kaum noch die Möglichkeit, solche Erfahrungen zu machen. Überall stehen sie unter Aufsicht, dürfen wegen Sicherheitsbedenken keinen Schneeball mehr werfen und müssen ihr Spiel begrenzen lassen von dem Haftungsbestimmungen der Versicherungen. Und wenn Eltern sich fragen, wie sie das Selbstwertgefühl ihres Kindes steigern könnten, dann durch mehr Freiheit, weniger Ängstlichkeit und viel Herumstromern in der Natur. Als unser Kronprinz noch ein Grundschulkind war, durfte er seinen besten Freund mit in unseren Urlaub auf der Ostseeinsel Poel nehmen. Dort war alles so überschaubar und sicher, dass die beiden Jungs sehr viel auf eigene Faust unternehmen konnten. Mal waren sie allein am Strand, mal machten sie für uns Besorgungen und einmal kehrten sie in die Ferienwohnung zurück und glühten vor Begeisterung, weil sie Arbeit in der Minigolf-Anlage gefunden hatten: als Feger der Minigolf-Bahnen. In diesem Urlaub war das wachsende Selbstvertrauen der Jungs quasi mit Händen zu greifen.

  • Im zweiten „Gewünschtestes-Wunschkind“-Buch bin ich auch einem Gedanken wieder begegnet, der mich schon bei Hubertus von Schoenebeck so fasziniert hat: Wenn Eltern und Kinder in einer schwierigen Situation eine Übereinkunft treffen, dann ohne, dass ich als Mama oder Papa meine Vorstellungen oder Überzeugungen in das Kind pflanzen muss, so nach dem Motto: „Sieh es ein, ich weiß es besser!“ Kinder tun gerne etwas ihren Eltern zuliebe, wenn diese auf Rechthaberei verzichten. Zum Beispiel hat Prinzessin (17) zum Osterfeuer bereitwillig die wärmere Jacke angezogen, als ich gesagt habe: „Ich weiß, dass du sehr viel weniger kälteempfindlich bist als ich, aber ich kriege die Vorstellung nicht aus meinem Kopf, dass du in ein paar Tagen wieder nach Kanada fliegst und ich dich womöglich mit einer dicken Erkältung und Fieber in das Flugzeug steigen lassen muss.“ anstatt zu sagen: „Du spinnst wohl, mit diesem Jäckchen an die Elbe zu gehen. Du wirst dich garantiert erkälten. Wenn die Nieren kalt werden, dann ….!“
  • Sehr berührt haben mich Katja Seides Schilderungen aus ihrem Schulalltag. Wie sie nach einem heftigen Konflikt zwischen Schülern den „Täter“ und das „Opfer“ in einer Wolke der Wertschätzung und Anerkennung ihrer Mitschüler baden lässt. Statt den „Bösewicht“ abzukanzeln, zu strafen, noch stärker in die Isolation zu drängen, aus der er wahrscheinlich gehandelt hat, und das „Opfer“ sich noch schwächer und noch mehr ausgeliefert fühlen zu lassen, holt sie beide in die Gemeinschaft zurück. Sie bittet die Mitschüler, sich zu erinnern, wann sie den „Mobber“ als mitfühlend und das „Opfer“ als stark erlebt haben. So können beide anknüpfen an bessere Zeiten, statt durch das Geschehen noch stärker isoliert zu werden. Strafen – das wird in diesem Buch sonnenklar und auch durch mehrere Studien belegt – macht kein Kind zu einem besseren Menschen, sondern im Gegenteil: Strafen verstärkt das unerwünschte Verhalten.
  • An manchen Stellen sind Seide und Graf mir zu ängstlich darauf bedacht, Kindern gegenüber keine Macht auszuüben. Sie haben einen eher negativen Machtbegriff, während man bei anderen Autoren zunehmend findet, wie wichtig für Kinder eine liebevolle Führung ist. So hat Jesper Juul ein ganzes Buch über „Leitwölfe sein“ geschrieben und Ex-Supernanny Katharina Saalfrank betont im Vorwort ihres jüngsten Buches: „Kinder brauchen Führung – ohne die sind sie verloren. Die Frage ist nur, wie die Qualität dieser Führungen beschaffen ist und für welche Form der Führung ich mich entscheide.“ („Kindheit ohne Strafen“, Seite 9). Im „Gewünschtestes-Wunschkind“-Buch, Teil 2, ist in einem Kapitel (ab Seite 99)  davon die Rede, dass Eltern heute Kinder in mancher Hinsicht über- und in anderer Hinsicht unterfordern und dass diese ungünstige Zuteilung von Verantwortung zu Konflikten führen würde. Eltern steuern also  – auch bei Seide und Graf – , wem sie wie viel Verantwortung geben und wem nicht. Diese Verteilung von Verantwortung hat mit Macht oder mit Führungsstärke zu tun – wie auch immer man das nennen möchte. (Übrigens wäre das ein lohnendes Thema für eine wissenschaftliche Hausarbeit: „Der Macht-Begriff in Erziehungs-Bestsellern der Gegenwart“.)
  • Die Lektüre des zweites Bandes aus dem Berliner Erziehungs-„Wahnsinn“ ist lohnend, weil die Autorinnen den „Wahnsinn“ wunderbar ordnen und mit wissenschaftlichen Quellen sachkundig untersuchen. Wie schon im ersten Buch versteht man besser, warum Kinder entwicklungsbedingt nicht anders handeln können, als sie es zum Leidwesen ihrer Eltern mitunter tun. Und auf jeder Seite ist eine überwältigend große Liebe für kleine Menschen zu spüren. So bildet auch das neue Buch der beliebten Bloggerinnen ein bedeutsames Gegengewicht zu den Ratgebern, die immer wieder das Schreckensbild der Tyrannen-Kinder heraufbeschwören.

Immer fröhlich Kinder besser verstehen lernen.
Eure Uta

Beitragsbild von Cottonbro von Pexels. Vielen Dank!

  • Danke für deine schöne Zusammenfassung! Das Buch liegt schon hier neben mir, ich habe nur leider noch nicht die Zeit gefunden, mich gebührend damit zu beschäftigen 🙂
    Liebe Grüße und alles liebe an die kanadische, gesunde Prinzessin 😉
    Christina

  • Hallo Uta,
    ich lese nicht viel auf Elternblogs und kaufen selten „Erziehungsratgeber“ – wenn man es genau nimmt, sind es nur du sowie Katja Seide und Danielle Graf, von denen ich gerne unser Familienleben inspirieren lasse!
    Umso schöner, dass ihr euch auch gegenseitig unterstützt! Danke für diesen schönen Artikel (das Buch liegt auch noch ungelesen bei mir) und auch die vielen anderen (meine Kinder sind noch klein, aber deine Berichte geben sehr aufschlussreiche Einblicke in den Alltag meiner schon größeren Schüler zu Hause – Danke auch dafür!).
    Liebe Grüße
    Charlotte

  • Hmmm. ich muss ja zugeben, dass mich das erste Buch der beiden Autorinnen mit einem latenten schlechten Gewissen zurückgelassen hat – auch wenn die Trotzphasen meiner Kinder vorbei sind und wir uns langsam eher der Pubertät nähern. Ich habe mich nicht gegen das Gefühl wehren können, ganz viel falsch gemacht zu haben. Wie konntest du nur! Das arme Kind ist entwicklungsphysiologisch /-psychologisch und überhaupt nicht in der Lage, anders zu reagieren, als hier den Zwergenaufstand zu proben!!! Ich habe wenig daraus mitnehmen können. (Da finde ich die Bücher von Remo Largo irgenwie ehrlicher – sie beschreiben die ganze Bandbreite an „Normal“…)
    Mir hat da die Zuversicht gefehlt, dass es schon meistens okay ist, auf sein Bauchgefühl zu hören. Und dass man eben auch nur Mensch ist und man nicht für alles und jedes Verhalten Verständnis zeigen muss. Anders als andere Leserinnen habe ich es nicht als Entlastung empfunden, zu wissen, was auf neuronaler Ebene (oder so) sich abspielt und dass es erstmal nichts mit mir und meinen Fähigkeiten als Mutter zu tun hat, wenn da ein Zornegickel vor dem Eiskiosk liegt und nach einer zweiten Kugel Blauer Engel schreit. An manchen Tagen kann ich das gut ab, an manchen Tagen möchte ich mich dazuwerfen und auch ne Runde heulen (heute wäre so ein Tag).
    Wenn unsere Bücherei das neue Buch anschafft (das erste habe ich dort ausgeliehen), dann werde ich es wohl mal quer lesen. Aus Neugier.
    Deine Zusammenfassung trägt sicher dazu bei, dem Buch eine Chance zu geben.
    Viele Grüße
    SteffiFee

  • Liebe SteffiFee, herrlich der ganze Kommentar, aber besonders die Passage „und dass es erstmal nichts mit mir und meinen Fähigkeiten als Mutter zu tun hat, wenn da ein Zornegickel vor dem Eiskiosk liegt und nach einer zweiten Kugel Blauer Engel schreit. An manchen Tagen kann ich das gut ab, an manchen Tagen möchte ich mich dazuwerfen und auch ne Runde heulen (heute wäre so ein Tag).“
    Ich kann gut nachvollziehen, was du schreibst, ich konnte es vielleicht besser aufnehmen, weil meine Kinder da schon längst aus diesen Phasen heraus waren und die ganze nervliche Anspannung nur noch eine ferne Erinnerung war. Für mich war noch ein anderer Gedanke bei der Lektüre des ersten Buches wichtig: Meines Erachtens brauchen Kinder auch Widerstand, um sich daran zu reiben, vielleicht sogar Befehle, um auch mal zu entscheiden: ‚hier folge ich nicht‘, auch mal eine Missachtung ihrer Wünsche, ja sogar Bedürfnisse, um zu merken ‚hier will ich kämpfen‘ und zu erfahren ‚ich schaffe das‘. Ich denke manchmal, dass beide Autorinnen vielleicht so starke Persönlichkeiten sind, dass sie kraft Person führen und gar nicht merken, wie sehr sie das tun. Und dass Eltern, die ihre eigenen Bedürfnisse vielleicht nicht so stark vertreten und so respektvoll äußern können, mit der bedürfnisorientierten Erziehung eher unter die Räder geraten.
    Je größer die Wunschkinder in Berlin jedoch werden, desto angemessener halte ich aber auch ein größeres Mitspracherecht. Vielleicht gefiel mir das Buch deshalb besser. Auf jeden Fall lohnt sich meiner Ansicht nach die Lektüre und es ist auch in keiner Weise dogmatisch.
    Herzliche Grüße und danke für deine Auseinandersetzung mit dem Thema! Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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