Trotz aller Wiedersehensfreude bedarf es auch klärender Gespräche.
Die Kinder sind wieder abgereist, Tagesdecken liegen über ihren Betten, Wimpernzange und 007-Deo sind aus dem Bad verschwunden und es bleibt die Erkenntnis, dass bei aller Freude, sie wieder hier zu haben, wir Eltern nicht umhin kommen, nach ein paar Tagen anzusprechen, was für uns im Zusammenleben funktioniert und was nicht.
Die ersten Tage waren wir voller Freude und verbrachten ganze Abende kuschelnd auf dem Sofa. Selbst als wir Heiligabend auf dem Weg zum Gottesdienst feststellten, dass Prinzessin (neuerdings 17) mit nackten Beinen neben uns im Auto sitzt, sie es also nicht für nötig hielt, zu dem wirklich, wirklich kurzen Kleid zumindest eine Feinstrumpfhose zu tragen, so dass wir bei immerhin 12 Grad in der langen Schlange vor der Kirche standen mit einem Mädchen, das aussah, als wäre es von den Dreharbeiten für „Baywatch“ in ein mitteleuropäisches Weihnachtsfest gebeamt worden. Auch das nahmen wir also locker. Und der Platzanweiser schickte uns weder auf die benachbarte Reeperbahn noch musste Prinzessin später das Bett hüten. Nicht einmal den kleinsten Schnupfen bekam das Kind. (Das lässt mich immer mehr an Abhärtung glauben.)
Wir gerieten also nicht in Streit, worüber man in Streit hätte geraten können. Nach ein paar Tagen aber begann uns doch zu nerven, dass Thronfolger erst zum Essen kommen, wenn wir zweimal geklingelt und dreimal gerufen haben, dass wir im Flur mit Anlauf über Sporttaschen springen müssen, dass noch nicht einmal gefragt wird, ob man das Auto nehmen darf, und dass gemeckert wird, wenn wir Hilfe im Haushalt einfordern.
Also führten wir ein Gespräch. Und das kann ich wieder einmal sehr empfehlen.
- nicht im Stress rummeckern,
- keine Vorwürfe
(„Immer musst du deinen ganzen Kram …!“, „Kannst du nicht einmal in deinem Leben …“, „Du bist so ein Chaot …“), - sondern sich mit etwas zeitlichem Abstand in einem günstigen Moment zusammensetzen,
- sagen „für mich funktioniert das so nicht“ oder „ich will das anders haben“
- „Woran liegt es, dass wir mit dem Essen warten müssen?“, „Möchtest du gar nicht essen um die Zeit?“, „Soll es nur eine gemeinsame Mahlzeit geben?“
- „Ja, wir verstehen, dass du nach dem starren Stundenplan im Internat einfach in den Tag lümmeln möchtest, aber einmal am Tag möchten wir gemeinsam mit dir essen und dann möchten wir, dass du uns nicht vor den Tellern warten lässt.“
- „Ich genieße das Autofahren so, weil ich es wochenlang nicht konnte.“ – „Ja, das verstehe ich. Und ich überlasse dir das Auto auch gerne. Ich möchte aber trotzdem, dass du seine Nutzung mit uns abstimmst.“
- „Ich erfülle gerne deine Bedingungen und Wünsche (z.B. Wäschewaschen), aber ich merke, dass ich zunehmend sauer werde, wenn meine Bedingungen (z.B. Dusche putzen) nicht erfüllt werden.“
Danach lief es wieder prima. Ich merke dann, wie sich in mir und auch in der Familie die Energie verändert, wenn ich zur Sprache bringe, was mich stört. Sonst hat man fruchtlosen Streit, in dem man Dinge sagt, die man nach der Abreise der Kinder bereut. Oder es stauen sich Ärger oder Wut auf und man fängt an, die anderen mit schlechten Gefühlen zu manipulieren.
Unser Sohn ist erwachsen, unsere Tochter fast. Da gehen uns viele Dinge nichts mehr an und ich wundere mich, wie übergriffig Eltern erwachsener Kinder oft sind. Diese „Übergriffigkeit“ geht merkwürdigerweise damit einher, dass diese Eltern „untergriffig“ sind, was ihre eigenen Bedürfnisse angeht. Warum nicht klar sagen, wie man es möchte im eigenen Haushalt, beim Umgang mit dem eigenen Auto, dem eigenen Geld?
„Wir müssen lernen auszudrücken, wer wir sind und wofür wir stehen, statt unseren Kindern vermitteln zu wollen, wie sie sein sollen.“ (Jesper Juul)
Immer fröhlich sich trauen, ein offenes Gespräch zu führen.
Eure Uta
Ah, Uta,
ich verstehe, was du meinst.
Unser Sohn ist ja im vergangenen Jahr in vielerlei Hinsicht so erwachsen geworden, was echt toll ist. Und nun ist er Student und wohnt noch daheim bei uns. Und irgendwie ist alles anders, und trotzdem gleich.
Ja, du formulierst es mit Unter- und Übergriffigkeitsbalance ganz gut.
Ich habe ein relativ witziges „Ventil“ gefunden…es ist ein Spiel, ein Gedankenmodell:
So stelle ich mir vor, dass Kinder, die auf die Welt kommen, sagen wir mal 10.000 „Wohnpunkte haben. Erworben durch Geburt. Bei schlechtem Benehmen werden Wohnpunkte abgezogen, in der Pubertät ganz viele. Aber das Kind kann auch Wohnpunkte dazu erwerben…ÄH…durch Hausarbeit. Zum Beispiel.
Jeder weiß, was gemeint ist, wenn ich bei Ansicht des Geschirrberges, der sich über Nacht dort aufgetürmt hat, dann sage: „Sohn, über Nacht hast du 50 Wohnpunkte verloren“.
Manchmal nur mit Blick auf irgendeinen Mißstand:“Hier droht Punkteverlust.“
Oder ich vergebe Wohnpunkte für Kochen, Backen, Holz machen…oder für eine Exel-Tabelle, die er mir erstellt…
Aber wenn wir ehrlich sind, werden die Wohnpunkte wohl nie unter Null sinken.
Vorher zieht er wohl freiwillig aus…irgendwann…
😉
Liebe Grüße
Wie gesagt, es ist ein Spiel, es flacht gerade ein wenig ab,
aber trifft genau den Nerv, den Du beschreibst.
Liebe Uta, ich finde es wahnsinnig schön, welche natürliche Nähe Ihr mit Euren Kindern lebt – auch wenn sie nun schon (fast) erwachsen sind. Das klingt so beiläufig und selbstverständlich, ist aber doch so eine wichtige Basis!
Der Aspekt fällt mir deshalb so sehr auf weil ich eine solche Nähe von meinen eigenen Eltern nicht erlebt habe. Und das prägt einen das ganze Leben lang. Nun im Erwachsenenalter wird mir das erst bewusst. Ganz instinktiv geben mein Mann und ich unseren kleinen Töchtern viel Nähe. Wir haben sie lange getragen und sie dürfen bei uns im Bett schlafen, weil es uns nicht stört sondern wir es geniessen. Sobald wir merken dass sie einen Schritt in die Selbstständigkeit machen, versuchen wir dann sie zu ermutigen. Dann entsteht wieder eine neue Art von Nähe und Vertrauen.
Mich würden Deine Gedanken zum Thema „Nähe innerhalb der Familie“ sehr interessieren, liebe Uta!