Interview mit Lehrerin und Pädagogen-Coach Ann-Marie
Ann-Marie ist Lehrerin an einer Gesamtschule in NRW. Sie unterrichtet dort Mathe, Pädagogik und Latein. Zudem betreibt sie den Blog https://beziehungsweise-schule.de und ist unter „beziehungsweise_schule“ auch auf Instagram zu finden. Ihr erinnert euch sicher an ihre erfrischenden Methoden, Latein zu unterrichten, in meinem Blog-Beitrag "Wie Kinder leichter Sprachen lernen". In unserem Gespräch heute aber geht es um das "Hass-Fach" Mathe.
Uta: Liebe Ann-Marie, du unterrichtest neben Latein und Pädagogik auch Mathematik, weil dich Mathe so begeistert. Vielen Schülern geht es ganz anders. Warum ist Mathe häufig so verhasst?
Ann-Marie: Mathe ist ein Hauptfach und abschlussrelevant. Die Schüler kommen bis zum Ende, also bis zur Hauptschul-, Realschulprüfung und bis zum Abitur nicht aus der Nummer raus. Folglich haben sie bis zum Ende Mathe und zwar schriftlich.
Uta: Auch Englisch und Deutsch ist bis zum Ende verpflichtend. Bei Mathe scheint mir das Wehklagen darüber aber noch größer zu sein. Woran liegt das?
Ann-Marie: Besonders in Mathe gilt, dass wir den Kindern von Anfang an viel zu wenig Zeit zum Üben geben. So häufen sich die Probleme von Jahr zu Jahr an. Wenn du in einem Schuljahr den Stoff nicht verstanden hast, bekommst du ihn im nächsten Jahr auf höherem Niveau wieder. Wenn du aber die leichteren Grundlagen schon nicht durchdrungen hast, verstehst du das Neue erst recht nicht. Das bricht vielen Schülern irgendwann das Genick.
Uta: Das war schon zu meiner Schulzeit so. Wann wird diese Misere endlich behoben?
Ann-Marie: Es ist eher schlimmer geworden, weil noch mehr in die Lehrpläne hineingestopft wurde und den Lehrern einfach keine Zeit bleibt, um mit den Schülern in der Schule zu üben. Das wird dann nach Hause verlegt in die Hausaufgaben, die häufig nicht gemacht werden, und die Kinder verlieren immer mehr den Anschluss. Durch Corona wurden wir gezwungen, im Lehrplan zu schauen, auf welchen wesentlichen Stoff wir uns beschränken wollen. Das ist durchaus heilsam und ein Prozess, der gerade erst beginnt, weil wir uns auf längere Phasen des Distanzlernens einstellen müssen.
Uta: Wie könnte man die Situation verändern?
Ann-Marie: Der Mensch lernt, wenn es für ihn bedeutsam ist. Das ist die Quelle aller Motivation. Wenn ich verstanden habe, was ich persönlich damit machen kann, entsteht sofort ein Antrieb. Mathebücher für den Hauptschulzweig sind sehr viel Praxis-näher gestaltet als die Bücher fürs Gymnasium. Da gibt es Aufgaben, in denen es zum Beispiel darum geht, sich den günstigsten Handytarif zu errechnen. Mathebücher für Gymnasiasten sind viel abstrakter. Aber warum sollte ein Schüler auf dem Gymnasium nicht auch praktisch und greifbar einen Zugang zu mathematischen Lösungen bekommen? Weshalb ist das unter seinem Niveau?
Mein Traum ist ein projektorientierter Unterricht. Zum Beispiel gemeinsam ein Stück Land bestellen und dabei alle Fächer anwenden. Auch Mathe. Wir haben fünf mal fünf Quadratmeter Fläche. Rechnet bitte aus, wie viel Saatgut wir brauchen? … Wenn aber jemand eine Formel an die Tafel knallt, ohne dass der Schüler das anwenden kann, sagen sich die Jugendlichen nur: „Ja, toll!“ und vergessen es wieder. Die Fleißigen büffeln das, wissen aber gar nicht wofür. Die anderen sind abgehängt.
Uta: Welche Erfahrung machst du in deinem Matheunterricht. Gibt es tatsächlich Kinder, „die einfach kein Mathe können“?
Ann-Marie: Nein! Um Himmels willen. Das gibt es einfach nicht. Das ist Quatsch!
Uta: Viele hören schon von ihren Eltern: „Kein Wunder, dass du im Rechnen schlecht bist. Ich war auch eine Niete in Mathe.“ Was machst du als Lehrerin, wenn du merkst, dass ein Kind von vorne herein eine negative Einstellung zu Mathe hat?
Ann-Marie: Leider sind einige Kinder ja schon schulmüde, wenn sie zu uns in die fünfte Klasse kommen. Dann höre ich häufig: „Ich kann Mathe einfach nicht.“ Wenn der Satz fällt, weiß ich, es muss etwas passiert sein in der Grundschule. Denn kein Kind kommt am ersten Tag in die Schule und spürt sofort: „Ich kann kein Mathe.“ Diese Einstellung hat eine Geschichte. Deshalb unterhalte ich mich mit dem Schüler und frage, wann das angefangen hat. „Wann hast du zum ersten Mal gedacht, ich kann kein Mathe.“ Meistens hat er oder sie eine schlechte Erfahrung beim Rechnen gemacht, irgendein Nicht-Verstehen oder ein Gefühl des Scheiterns. Dann frage ich nach einem Mathe-Thema, das Spaß gemacht hat. Dort versuche ich anzuknüpfen. Wir müssen uns erst unterhalten. Daraus entsteht nicht gleich die große Mathe-Begeisterung. Aber in vielen kleinen Schritten können wir etwas verändern.
Uta: Funktioniert das auch bei älteren Schülern?
Ann-Marie: Ältere Schüler lasse ich erstmal den Satz „Mathe ist …!“ vervollständigen. Einige schreiben „Mathe ist ein Arschloch!“ Das ist wichtig. Das darf sein. Nicht jeder muss Mathe toll finden. Das raus zu lassen, kann sehr wohl tun. Aber auch wenn jemand sich nicht für das Fach begeistern kann, muss sie oder er darin keine 5 haben.
Ann-Marie, Mathe-Lehrerin
"Wichtig ist, dass die Schüler verstehen, der Glaube, sie seien für Mathe nicht geeignet, ist nur ein gedankliches Konstrukt. Es ist nicht die Realität und man kann es ändern."
Uta: Ich weiß von meinen Kindern, dass sie die Aufgaben in der Mathearbeit in der Regel schon lösen konnten, aber nicht immer in der vorgegebenen Zeit. Wie gehst du damit um?
Ann-Marie: Wenn ich bei den jüngeren Schülern nach der Mathestunde noch eine weitere Stunde in der Klasse bin, gebe ich ihnen bei Klassenarbeiten diese Stunde zusätzlich, damit sie genügend Zeit für die Aufgaben haben und niemand unter Zeitdruck gerät. Die Kleinen dürfen keine Prüfungsangst entwickeln. Das geht natürlich nicht immer. Und in der Oberstufe ist es gar nicht mehr möglich, aber sie müssen ja nicht schon so früh unter Druck geraten. Ich hatte eine Schülerin, die mir sagte, dass sie während der Arbeit immer alles vergisst, was sie weiß. Deshalb lieferte sie nur Fünfen ab. Ich habe mit ihr besprochen, wie sie sich währenddessen entspannen und das Gehirn kurz in eine Pause schicken kann. In der nächsten Arbeit hatte sie eine 4+. Die haben wir richtig gefeiert. Mir geht es nicht um die Noten, sondern bei ihr ging es erst einmal darum, dass es ihr in der Prüfungssituation besser ging.
Uta: Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen, wenn diese Probleme in Mathe haben?
Ann-Marie: Wichtig ist, den Druck, den das Kind in der Schule schon zu spüren bekommt, nicht weiter zu erhöhen. Und es darf sein, dass das Kind Mathe blöd findet. Viele Eltern versuchen verzweifelt, ihrer Tochter oder ihrem Sohn Mathe schmackhaft zu machen. Sie haben Angst, die Tür könnte ganz zufallen, wenn sie zulassen, dass ihr Kind Mathe blöd findet. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn das Kind Mathe erst einmal blöd finden darf, geht eine Tür auf, und es kann nach und nach doch etwas daran verändern.
Uta: Nochmal zu deinem Stichwort, dass mehr Übung in der Schule nötig sei. Aus dem Buch „Die digitale Bildungsrevolution“ von Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt habe ich mitgenommen, dass besonders das Fach Mathe gut geeignet sei für digitale Unterstützung. In Lernprogrammen könnten den Schülern genau die Aufgaben zugespielt werden, in denen sie noch Schwächen zeigen. So könnten die enormen Leistungsunterschiede in Schulen aufgefangen werden. Was hältst du für eine sinnvolle Digitalisierung des Matheunterrichts?
Ann-Marie: In Mathe wäre ein solches Programm super. Besonders zum Üben. Es braucht aber weiterhin den Lehrer, um den neuen Stoff einzuführen und zu erklären, welche Bedeutung er hat. Zuletzt hatte ich eine 6. Klasse in Mathe. Da haben wir die „Anton“-App genutzt. Das ist eine Plattform, auf die ich Übungsaufgaben stellen kann. Die App ist aber nicht so intelligent, dass sie automatisch dem Schüler Aufgaben zuspielt, die genau seinen persönlichen Übungsanforderungen entsprechen. Meine Schule ist bisher sowieso kaum digital ausgestattet. Als ich es eingeführt hatte, dass meine Schüler in Latein sich über QR-Codes das Lernmaterial abrufen konnten, war ich - verglichen mit Kollegen - ziemlich fortschrittlich.
Uta: Hättest du denn die Möglichkeit, ein Mathe-Übungsprogramm einzuführen, das dem jeweiligen Schüler genau die Aufgaben zuspielt, die er besonders üben muss?
Ann-Marie: Schon. Wenn ich meine Ziele erreiche, kann ich eigentlich alle Methoden einsetzen. Jetzt gehe ich allerdings erst einmal für eineinhalb Jahre in Elternzeit, weil ich mein drittes Kind bekomme. Neue Methoden für Mathe müssen dann noch warten.
Tipps für Eltern
von Ann-Marie und Uta
Pros
Ganz herzlichen Dank, liebe Ann-Marie, für das Interview und für dein Sein als ermutigende Lehrerin!
Schreibt ihr mir, welche Erfahrungen ihr mit der Unterstützung eures Kindes beim Mathe-Üben gemacht habt? Was hat funktioniert und was nicht?
Immer fröhlich und mutig Schritt für Schritt Mathe verstehen,
Eure Uta
Liebe Uta! Die Seite von Lena zu (matheschwierigkeiten-loesen.de) wollte ich auch empfehlen. (Ich folge ihr auf Insta.) Lena ist so einfühlsam und sieht bei den Kindern nie die Defizite, an denen es zu arbeiten gilt, sondern die Stärken, auf die sie aufbauen können. Und sie findet bei jedem Kind Stärken!
Und ich hatte gerade gestern ein Gespräch zu Mathe-Unterricht mit einer Lehrerin und wir stellten übereinstimmend fest, dass der Lehrplan dringend entrümpelt gehört. Viel mehr Wert sollte auf den Praxisbezug gelegt werden. Nur dann erschließt sich den „normalen“ SuS ab Klase 9/10 der Sinn, warum sie sich damit befassen sollen. Sachen wie „Statitistiken richtig lesen und interpretieren“ (sooo wichtig! Stichwort Fake News), Wahrscheinlichkeitsrechnung, Alltagsrechnen (alles, was in Richtung Wirtschaft geht), auch Dinge, die in Richtung Informatik gehen (was ist ein Algorithmus, wie funktionieren Programme, Bots etc.) finde ich persönlich im Jahr 2020 weitaus relevanter für Jugendliche, als beispielsweise die Kurvendiskussion mit sin, cos, und tan., die schon ihre Urgroßväter zum Verzweifeln gebracht haben (so sie denn Abi machen durften).
Ich habe Biologie studiert. Nach meinem Vordiplom musste ich mich außer mit den Grundrechenarten, Bruchrechnen, Dreisatz und Prozentrechnen mit nichts mathematischem mehr beschäftigen. (Leider wissen das meine Kinder….) Es ist trotzdem was aus mir geworden 😉
Viele Grüße Steffi
Liebe Steffi, herzlichen Dank für diese Ergänzungen! Es freut mich, dass ihr auch gute Erfahrungen mit der Seite von Lena gemacht habt. LG Uta
Liebe Uta,
wir finden es toll, dass du das Thema aufgegriffen hast. Wir teilen deinen Eindruck, dass Mathe als Schulfach häufig unbeliebt ist.
Den Ansatz, mehr Zeit zum Üben zu schaffen, finden wir wichtig. Die Frage, die wir uns dabei gestellt haben, ist, ob es nur Aufgabe der Lehrkraft ist, Raum dafür zu schaffen. Darüber hinaus sehen wir eine große Herausforderung in der individuellen Lernbetreuung bei einer Klassenstärke von (deutlich) über 20 Schülern mit unterschiedlichen Lerntempi. Vielleicht wäre eine stärkere Anleitung zum selbstständigen Lernen zu Hause eine Herangehensweise.
Dass Schüler ihr eigenes Lerntempo haben und die Gefahr besteht, einige Schüler abzuhängen, betrifft in unseren Augen nicht nur das Fach Mathematik. Beispielsweise können fehlende Grammatikkenntnisse in Fremdsprachen einen ähnlichen Effekt haben. Wie wird die Problematik in anderen Fächern umgangen? Wie denkst du darüber?
Wir würden uns insgesamt wünschen, dass man dem Fach Mathematik mit weniger Vorurteilen begegnet….wir hören häufiger Sätze wie „Mathe kann ich sowieso nicht“ oder „Das brauche ich ja später eh nicht“. Vielleicht ist hier eine bessere Kommunikation und mehr Praxisbezug notwendig.
Als Letztes ist es uns ein Anliegen, das Vermitteln von im Lehrplan vorgesehenen Grundkenntnissen von einer anderen Seite zu beleuchten. Wenn wir einmal das Beispiel der Kurvendiskussion aus Steffis Kommentar aufgreifen dürfen: Diese stellt die Grundlage jeglicher Optimierung dar (z.B. Autonomes Fahren, Stau-Vermeidung, Evakuierungspläne, Geometrie von Verpackungen,…). Hier hat Schule in unseren Augen die Aufgabe, notwendige Werkzeuge bereitzustellen. Auch wenn deren Nutzen nicht immer unmittelbar ersichtlich ist, ist das Lösen vieler komplexer Problemstellungen in den Ingenieurs-, Wirtschafts- und Naturwissenschaften ohne diese nicht möglich.
Spannendes Thema…
Liebe Grüße
Kerstin & Simon
Liebe Kerstin, lieber Simon, herzlichen Dank für euren Beitrag zu diesem Thema!
Ich könnte mir vorstellen, dass in Mathe die Themen mehr und direkter aufeinander aufbauen als in Sprachen zum Beispiel. Wenn ich die if-Sätze im Englischen nicht verstanden habe, kann ich mich trotzdem ausdrücken, aber wenn ich kein Bruchrechnen kann, wird es schwierig mit meiner weiteren Mathelaufbahn, oder? Das könnte aber auch meine persönliche Sicht der Dinge sein, weil mir Sprachen leichter fielen als Naturwissenschaften.
Danke für die Info, dass man die Kurvendiskussion braucht für die Entwicklung und Optimierung des Autonomes Fahrens, der Stau-Vermeidung, von Evakuierungsplänen und der Geometrie von Verpackungen,…Wie spannend! Kanntet ihr den Verwendungszweck schon zu eurer Schulzeit? Wenn ich weiß, wozu ich etwas lerne, ist die Motivation doch gleich größer. Diese Transferleistung – so mein Eindruck – wird in der Schule zu selten erbracht, oder?
Ich finde es schwierig, gerade jetzt in Corona- und Home-office-Zeiten, Eltern noch mehr Verantwortung für die Lernbegleitung ihrer Kinder zu geben. Für mich liegt der Schlüssel in einer Verbesserung der Lehreraus- und fortbildung.
Vielen Dank für eure Gedanken zum Thema und herzliche Grüße, Uta