Wie Basti sich innerlich abrackert 

 02/02/2014

Neulich bekam ich in einem Kreis von Müttern diese Geschichte mit:
Eine Frau, die sich vor einigen Jahren von ihrem Mann getrennt hatte, lebt allein mit ihrem zwölfjährigen Sohn und ihrer Mutter.
Oma kocht und backt und führt den Haushalt.
Mutter arbeitet, um alle zu versorgen.
Sohn ist bockig.
Weil er seine Hausaufgaben nicht pünktlich erledigte, wurde das iPad kassiert.
Oma kocht und backt und macht auch noch Cafeteria-Dienst in der Schule. Aber was sie mit dem Jungen tun soll, der sich immer wieder dieses „i-Dings“ holt, weiß sie nicht.
Die Tochter hat es schließlich weggeschlossen. Punkt. Aus. Keine Widerrede.
Kürzlich eskalierte die Situation.
Wichtige Arbeitsunterlagen der Mutter waren verschwunden, als sie morgens zu einem neuen Arbeitgeber fuhr.
Sohn war in der Schule.
Oma stellte sein Zimmer auf den Kopf und fand die Arbeitsunterlagen hinter seinem Bett.
Omas Blutdruck in der Situation wollt ihr nicht wissen.
Aber wissen müsst ihr, dass Mutter einen neuen Partner kennengelernt hat und mit Sohn und Mutter in seine Nähe nach Hannover ziehen will und dass …
Bastian sein altes Umfeld und seine Freunde verlassen und auf eine neue Schule gehen wird, eineinhalb Jahre nach seinem Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium.
Oma und die versammelten Mütter sind sich einig, dass Bastian ein schlimmer Junge ist, dem „mal endlich Grenzen gesetzt werden müssen“.
„Jetzt reicht es wirklich mit dem Basti“, schnauft seine Oma. „Ich habe ihm schon gesagt, er darf gerne zu seinem Vater ziehen. Dann wird er schon sehen, wie der sich um ihn kümmert. Aber das ist mir jetzt auch egal.“
Synchrones Nicken bei den Frauen.
Alle bedauern die Oma. „Das hat die Heide doch wirklich nicht verdient, wo sie sich so abrackert für den Jungen und die Tochter.“ – „Und die arme Melanie! Kommt abends von der Arbeit, und zu Hause ist nur Krieg.“
„Und der arme Basti“, hob ich an, „so eine große Umstellung ….“
Aber das wollte niemand hören.
Jesper Juul sagt:
Es gibt keine Eltern, die ihre Kinder nicht über alles lieben.

Und es gibt keine Kinder, die ihre Eltern nicht über alles lieben. 

Aber Eltern und Kinder können diese Liebe häufig nicht umsetzen in liebevolles Verhalten, stattdessen herrscht „tiefe, schmerzhafte Frustration“.
Mutter und Oma rackern sich ab, um die kleine Halb-Familie über die Runden zu bekommen. Aber so viel sie auch rackern, sie haben nicht das Gefühl, für Bastian wertvoll zu sein. Das tut weh und macht wütend. Und alle Erwachsenen schreien nach härteren Maßnahmen für den aufmüpfigen Jungen.
Dabei sehen sie nicht, wie Basti sich abrackert.
Es ist ein existentielles Abrackern tief in ihm drin.
Er muss den Spagat hinkriegen zwischen seiner Liebe zu Mutter und Oma und seiner Liebe zu seinem Vater, der von den enttäuschten Frauen gerne als Horrorkulisse inszeniert wird. „Na, auf den kann man sich gar nicht verlassen.“
Er muss – umgeben von zwei Frauen, die gerade auf Männer nicht gut zu sprechen sind – seine männliche Identität finden, ohne dafür in seiner unmittelbaren Nähe ein Vorbild zu haben, jemand, der ihm alltäglich zeigt, wie man mit Frauen klar kommt.

Mein Mann mit unserem Kronprinzen im Urlaub.

Ihr könnt mir glauben, dass Basti sich abrackert, und es täte ihm gut, wenn das mal jemand anerkennen und verstehen würde.
Und bei dem ganzen inneren Ringen kommt jetzt auch noch ein neuer Mann für Mama, ein Umzug, der Verlust der Freunde, eine neue Schule ….
Noch Fragen?
Man kann froh sein, dass der Junge nur ein paar Arbeitsunterlagen versteckt hat und nicht Amok gelaufen ist.
Juul sagt, Kinder von alleinerziehenden Eltern würden sich schnell zu viel Verantwortung aufbürden, aber aufhören zu kooperieren, wenn sie nicht mehr können.
Das gelte besonders für das älteste oder das einzige Kind.
Nicht mehr kooperieren heißt: sie machen ihre Hausaufgaben nicht mehr, verweigern ganz die Schule, halten sich nicht an Abmachungen, werden aggressiv oder krank.
Ich beziehe mich hier auf das Hörbuch Familienberatung. Perspektiven und Prozess, von Jesper Juul, erschienen im Dezember 2013. (Das gibt es auch als Buch, aber ich nutze Hörbücher gerne beim Zusammenlegen der Wäsche).
Welche Hilfen kann man ableiten aus dem Hörbuch:

  • Eltern in einer alleinerziehenden Situation sind extrem beansprucht. Juul zufolge gibt es zwei ebenso extreme Antworten auf diese Überbeanspruchung: 1) totales Negieren eigener Bedürfnisse und sich ganz aufgeben für die Kinder oder 2) abstumpfen und taub werden für die Nöte und das Befinden der Kinder. Weil beides schädlich ist, ist es wichtig, die Verantwortung für sein eigenes  Leben und seine eigene Gesundheit zu übernehmen, ein Netzwerk aus anderen Erwachsenen zu gründen, sich Unterstützung zu holen.
  • sehen und anerkennen, welche Kooperationsleistung das Kind vollbringt; es in Entscheidungen mit einbeziehen (Ja, wir gehen in eine neue Stadt. Was könnte es dir erleichtern, die Umstellung zu bewältigen? Soll ich die Eltern deines Freundes fragen, ob er bald nach dem Umzug ein Wochenende bei uns verbringen darf? …) Und wenn Mutter mit ihrem Freund zusammen ziehen möchte, muss sie ihren Sohn fragen, wie und unter welchen Bedingungen er wohnen möchte.
  • Nicht einfach abstrakte Grenzen setzen (iPad wegschließen). Das bleibt zu sehr an der Oberfläche und verhärtet die Situation nur. Sich als Mensch aus Fleisch und Blut einbringen, sagen, was geht für mich persönlich und unter welchen Bedingungen. z.B. „Ich weiß, der Umzug ist ein großer Einschnitt für dich. Wenn dir Computerspiele Entspannung bringen, kann ich akzeptieren, dass du das im Moment brauchst. Mir ist nur wichtig, dass du in der Schule den Anschluss nicht verpasst und für die neue Schule nicht so ein schlechtes Zeugnis hast. Was kann dir dabei helfen?….
Huch, das war jetzt viel Text. Könnt ihr noch einigermaßen fröhlich bleiben?
Das wünscht euch auf jeden Fall
Eure
Uta
  • Total traurig und doch passiert es so viele tausend Mal! Ich glaube, man sollte die Situation vor allem sehr, sehr langsam angehen. Nicht, dass die Mutter dann wieder umziehen muss und alles von vorne fehl schlägt. Vielleicht ist sogar erstmal noch eine Wochenendbeziehung besser. Ich hätte große Angst an Stelle der Mutter mich falsch zu entscheiden.
    Ich glaube auch, dass zwei Frauen und so eingespielte wie Mutter und Tochter sowieso aufpassen müssen, dass sie nicht wie Aasgeier über den Sohn herfallen und ihn als „bösen Mann“ markieren. Ich denke, wenn der Sohn sowas nötig hat, hat keiner mit ihm geredet und er ist es wohl auch nicht gewöhnt, sonst würde er ja mal seiner Meinung Luft verschaffen.
    Ich wünsche allen Dreien die Kraft miteinander zu reden und offen die Bedürfnisse der anderen zu sehen. Wenn sie das jetzt schon nicht hinbekommen, mit einem fremden Mann mehr im Boot wird es sicher nicht leichter. Aus diesem Grund fände ich es wichtig, dass sie es erstmal zu Dritt klären.
    Der leibliche Vater solls dann richten? Uhh, das riecht nach Probleme abschieben und ist für den Sohn sicher ganz schlimm! Wichtig ist der schon, sehr sogar – aber er solls jetzt richten – ich glaube das funktioniert nicht.
    Nein, ich bin deiner Meinung – der Sohn ist nicht mehr so klein, dass man über ihn entscheiden kann. Er muss gehört werden!
    Armer Junge – lass uns wissen, wenn du mal hörst wies ausgeht! Und doch muss ich an die vielen anderen Kinder denken, die es alle auch schaffen müssen – ich weis nicht, ob es eine Statistik zu „Schulversagern im weiteren Sinn“ gibt, aber ich traue mich zu behaupten, dass viele die höhren Schulen verlassen, weil dahinter Scheidungsgeschichten, Trennungen, Streitereien und ähnliches sind. Arme Kinder!

    Liebe Grüße LOLO

    • Liebe Lolo, danke für Deine Einschätzung und das Mitfühlen! Leider werde ich wohl nicht berichten können, wie es weiterging, weil sie inzwischen weggezogen sind.
      Einen schönen Montag, Uta

  • Liebe Uta! Wie du schon schreibst: Es gibt keine Kinder, die ihre Eltern nicht über alles lieben…
    Ihre Eltern – das sind beide, Vater UND Mutter!! Zu viele vergessen das! In der Zeit, als ich mich gerade trennte – mein Sohn war damals noch nicht in der Schule – hatte ich ohne Ende Gewissensbisse. Die Trennung war nötig, stand für mich nicht zur Debatte. In der Zeit war ich auf einer Fortbildung bei Dieter Krowatschek. Und er formulierte, dass getrennte Eltern „die Seele ihrer Kinder mittendurch reißen“… Das hat sehr in mir gearbeitet und gegen Ende der Veranstaltung fasste ich mir ein Herz und fragte Herrn Krowatschek (von dem ich übrigens große Stücke halte), ob es in dieser Situation keine Möglichkeit gebe, die für alle tragbar wäre… Er sagte, wichtig sei, dass das Kind BEIDE Eltern lieben DÜRFE!!! Diesen Satz habe ich mir ins Hirn und ins Herz geschrieben!!! Und jedes Mal, wenn meine Wut auf den Vater des Sohnes auch noch so groß war, habe ich darauf geachtet, das mit ihm und nur mit ihm auszumachen. Mein Sohn durfte ihn nach wie vor lieben, toll finden, anhimmeln, und das alles mir auch erzählen…
    Heute ist das Kind 20 Jahre alt und sagt selbst, wir hätten das damals gut gemacht…
    Er durfte auch immer mitentscheiden, wenn es um Urlaube, Organisationen ging. Ich habe mir immer vor Augen geführt, dass er (mein Sohn) das so nicht gewählt hat, dass es eine Geschichte unter Erwachsenen ist und daher auch sachlich von Erwachsenen geklärt werden sollte…
    Ups! Auch viel Text geworden…
    Nur noch kurz soviel: Liebe Uta! Weiter so! Dein Blog ist eine Bereicherung und ich bewunder dich sehr dafür, wie klar, deutlich, empathisch du das immer wieder schreibst!
    Liebste Grüße aus Karlsruhe,
    Nadja

    • Liebe Nadja, so eine Rückmeldung vom Kind ist ja enorm. Da kannst Du echt stolz sein. „Beide Eltern lieben DÜRFEN“ ist ein toller Satz.
      Danke für Deinen Kommentar und die große Anerkennung! Liebe Grüße Uta

  • Liebe Uta,

    ich wünsche der Mutter eine glückliche Beziehung und das Bewusstsein, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
    Dem Jungen wünsche ich eine glückliche Mutter, die ihr (hoffentlich) persönliches Glück auf ihn übertragen kann und ihn jederzeit spüren und wissen lässt, dass er ihre Nummer eins ist.
    Ich hoffe sehr, dass die Mutter nicht wirklich ihr Glück über das der anderen Familienmitglieder stellt, sondern alle teilhaben lässt und alle davon profitieren können.
    Und eine Oma, die Oma ist. Als Fels in der Brandung für den Jungen, wenn die Mama mal aus der Spur kommt. Die als Oma mit dem Jungen kleine Geheimnisse hat, ohne Mama. Die zeigen kann, wie wunderbar es ist, Oma und aktiver Teil der Familie zu sein.
    Ich wünschen allen Empathie und etwas mehr emotionale Kompetenz. Wer sich verstanden fühlt, fühlt sich besser und geliebter.

    Was für mich ganz stark durchklingt, dass keiner der drei den anderen versteht. Jeder sieht sich verkannt, nicht anerkannt. Es scheint stark um die eigenen Bedürfnisse zu gehen, die aber offensichtlich nicht gelebt und verbalisiert werden (können).
    Ich kenne das auch ein wenig. Manchmal denke ich auch, dass niemand sieht, was ich alles leiste. Dass es nicht damit getan ist, zu arbeiten, die Herzbuben aus der Kita zu holen und einen schönen Nachmittag mit ihnen zu verbringen. Es muss noch so viel drum herum geleistet werden. Arzttermine vereinbaren, ableisten, Haushalt und Wäsche machen, Essen vorbereiten, Taschen zum Sport packen, darauf achten, dass die Wechselsachen in der Kita vollständig sind, mir anhören, dass die beiden, kaum dass man sich umdreht schon den nächsten Streich aushecken, Freundschaften pflegen etc. Das kennt ihr alle. Da muss man sich schon ab und zu mal selbst auf die Schulter klopfen und nicht andere dafür verantwortlich machen, dass man keine Anerkennung bekommt. Und seinen Bedürfnissen Raum geben. Und Zeitfresser, Stressoren minimieren. Ganz wichtig.
    Und auch unsere Herzbuben fühlen sich sicher verkannt, wenn ich nicht in Jubelschreie ausbreche, wenn sie volle Trinkgläser gekonnt stapeln, dann noch die Plastikflasche darauf balancieren und unten mit Messer und Gabel dagegen schlagen, um zu musizieren. So lange, bis einer versehentlich gegen den Tisch knallt und der Turm einstürzt. Auch wenn ich dann mit den Herzbuben wische, alles klebt und nass ist und schreien könnte, sagt der große Herzbube in solchen Situationen manchmal: „Das habe ich gut gemacht, Mama.“ Grumpf. Nein, ich hätte mir das Wischen gerne gespart, aber klar, die Statik war großartig. Klar hat er das toll gemacht und tolle Ideen hat er sowieso. Nur kann ich ihm das nicht gleich so sagen. Oder wenn ich nicht entzückt bin von getragenen Unterhosen auf dem Kopf beim Räuberspiel oder dem bis oben hin mit Büchern, Spielzeug, Töpfen voll gepackten Gitterbett, weil die Herzbuben „alter Müll“ spielen. Ich verstehe sie auch nicht immer. Wenn ich aber frage, sind sie schon manchmal in der Lage, es mir zu erklären.
    Zum Glück hängt das alles nicht mit so weitgreifenden Eingriffen in unser Leben und Umfeld ab, wie bei der von dir geschilderten Familie.
    Ich hoffe auf einen glücklichen Ausgang, aber es sieht von hier aus betrachtet nicht so richtig danach aus. Armer Basti.
    Liebe Grüße,
    Frieda

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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