Der kleine Wassermann und Prinzessin Quietsch-Fuß 

 22/04/2016

Der Unterschied zwischen „ergebnis-orientiert“ und „prozess-orientiert“ im Zusammensein mit Kindern.

Als Kronprinz und Prinzessin sechs und drei Jahre alt waren, war ich in erster Linie Mama, habe aber ein wenig freiberuflich als Journalistin gearbeitet. Damals hatte ich noch keinen Kopierer zu Hause und musste mit den beiden nachmittags in einen Copy-Shop fahren. Ein unvergessenes Erlebnis. Es hatte vorher in Sturzbächen geregnet, der schlammige Parkplatz vor dem Copy-Shop hatte sich in eine große Seenplatte verwandelt. Und als ich Prinzessin aus dem Autositz hob, hatte ihr Bruder schon die ersten Pfützen durchpflügt und sah aus, als wäre er seit Tagen auf allen Vieren durch das Delta des Orinoco gekrochen. „Jetzt ist es auch egal“, dachte ich und ließ Prinzessin ebenfalls durchs Wasser waten, unterschätzte aber die Pfützentiefe, so dass ihr die Brühe in die Gummistiefel lief. Schließlich standen wir im Laden: Frau Katzenklo mit ihren Kopiervorlagen, der kleine Wassermann und Prinzessin Quietsch-Fuß.
Jetzt nur schnell kopieren und dann nichts wie nach Hause, dachte ich. Der Mann an der Kasse schenkte den Schmuddel-Kindern Lollies, ich legte das Buch, aus dem ich einige Seiten brauchte, bäuchlings auf das Gerät, als plötzlich ein Schrei die Spuckgeräusche des Kopierers durchschnitt. „Mama!!!“ Kronprinz hielt mir den Lutscher entgegen. Oben in der Lakritz-Kugel steckte ein Zahn. Sein Zahn. Ein bisschen weiß, aber hauptsächlich rot, weil blutverschmiert. Und „blutverschmiert“ ist nichts für kleine Wassermänner. Ohnmächtig sank unser Sohn neben dem grauen Kasten zusammen. Prinzessin weinte. Der Mann vom Copy-Shop und ich hielten jeweils einen Fuß vom Kronprinzen hoch, der langsam wieder zu sich kam.
Und ich wollte bloß ein paar Seiten kopieren.
Dies ist ein Beispiel dafür, wie es laufen kann, wenn man dringend etwas erledigen muss und kleine Kinder dabei hat. Wir Erwachsenen sind ja sehr ergebnis-orientiert, während Kinder eher prozess-orientiert leben. Zum Glück. Wenn sie Bobbycar fahren, fahren sie Bobbycar. Wenn sie im Park einen tollen Stein entdecken, müssen sie ihn in die Hand nehmen und fühlen und angucken, während wir den Stein gar nicht gesehen haben. „Komm schnell, gerade ist die Rutsche frei.“ – „Komm schnell, gleich beginnt das Kinderturnen.“ ….“Komm schnell, du wolltest doch noch ein Eis essen, bevor wir zur Logopädie müssen.“
Unsere Ergebnisfixierung morgens aus dem Job nehmen wir mit in die Zeit, die für die Kinder reserviert ist. Wenn wir es besonders gut meinen und nicht noch einkaufen oder aufräumen müssen, präsentieren wir ihnen ein Portfolio an Beschäftigungen: Zoo, Kinderturnen, Kasperle? Dabei würde es auch reichen, auf der Wiese Zitronenfalter zu beobachten, auf Mauern zu balancieren und zusammen Faxen zu machen. Einfach zusammen sein. Das Kind-Sein genießen, das Mutter-Sein genießen.
Natürlich kommen Kinder auch mit Ergebnisorientierung klar. Sonst würde der Alltag gar nicht funktionieren. Wichtig ist nur, dass sie beides erleben. Und mein Verdacht ist, dass sie in einer völlig ergebnisfixierten Welt zu wenig Zeiten des einfachen Zusammenseins, der Terminfreiheit und des selbstvergessenen Spiels erleben. Deshalb finde ich es hilfreich, wenn Eltern sich den Unterschied zwischen „ergebnis-orientiert“ und „prozess-orientiert“ klar machen, oder von einer „strukturierten“ oder einer „freien Situation“, wie Britta Kolbe und Wolfgang Bergmann es nennen. Sie schreiben:

„Es liegt bei uns Erwachsenen, zu unterscheiden, ob wir uns in einer strukturierten Situation befinden (z.B. Anziehen, Waschen, Aufräumen) und dort die Führung übernehmen oder ob wir den Raum öffnen für eine freie Situation (z.B. Freispiel) und dort den Impulsen der Kinder Aufmerksamkeit schenken.“ Britta Kolbe, Wolfgang Bergmann: Trotzphasen bei Kita-Kinder. Berlin 2016, Seite 32) 

Welche Schlüsse ziehe ich daraus?

  • Es hilft, sich mal zu fragen, ob es im Leben mit den Kindern genug „prozess-orientierte Phasen“ gibt, Phasen schlichten Zusammenseins ohne Termin- oder Ergebnisdruck. Dabei können alle auftanken, das schweißt zusammen. Hier versteckt sich das Glück.
  • Sich klar machen, dass es Situationen gibt, die meine klare Führung brauchen: „Unser Kühlschrank ist leer. Wir müssen jetzt noch zusammen einkaufen gehen.“ Nicht fragen: „Wollen wir jetzt einkaufen gehen?“ Das Kind hat ja nicht wirklich die Wahl, warum also eine suggerieren?
  • Dafür vielleicht nach dem Einkauf einfach mal daneben setzen, wenn es spielt und auf seine Impulse eingehen. (Keine Belehrungen, keine Besserwisserei nach dem Muster ‚Wenn du mit dem Klotz anfängst, wird der Turm stabiler.“ Es ist wichtig, dass das Kind es selbst ausprobieren und erfahren kann.)
  • Menschen, die viel mit Kindern zusammen sind, brauchen zum Ausgleich auch mal Phasen, die vor Ergebnissen nur so strotzen: z.B. Partner fährt übers Wochenende mit den Kindern zu den Großeltern, der andere darf ungestört das Wohnzimmer streichen, bis zur Schrumpeligkeit in der Wanne liegen, ein ZEIT-Dossier ohne Unterbrechung lesen, ohne Buggy neben der Umkleide die ganze Frühjahrsmode durchprobieren …

Immer fröhlich mal einen Termin sausen lassen und zusammen den Zitronenfaltern nachsinnen.
Eure Uta

Titelbild von Matthias Zomer von Pexels. Vielen Dank!

  • Liebe Uta,
    leider haben wir nach Arbeit und KiTa auch oft viel zu erledigen. Zum Friseur, zum Metzger und noch schnell in die Apotheke… Das hält uns allerdings das Wochenende weitestgehend frei! Wir gehen aber auch gerne zusammen ins Kinderzimmer, Sohnemann beginnt das Freispiel, ich sehe nach kurzer Zeit eigentlich nur noch zu und genieße die gemütliche Stimmung. Jetzt wo der Frühling da ist, hat mich aber die Sache mit den Zitronenfaltern inspiriert, mal den Nachmittag auf einer Wiese zu verbringen! Danke & liebe Grüße,
    Su

  • Liebe Uta!
    Wie auch bei der lieben Su sind bei uns unsere Wochenenden heilig! An Ihnen geniessen wir das Frühstück, die Spaziergänge draußen oder auch einfach nur das Spielen zusammen. Sicherlich, oft rückt die penible Reinigung der Wohnräume in den Hintergrund, aber dafür weiß ich, dass ich die Zeit mit meinem fast 3jährigen Sohn genossen habe, den diese bringt einen keiner zurück.
    Was für mich auch noch wichtig im Alltag ist, ist das zu Bett gehen. Es ist für uns die Zeit des Runterkommens, wowohl für uns als auch für den kleinen Mann. Wir lesen ein Pixi-Buch und erzählen uns danach wie der Tag so war. Diese Zeit nehmen wir uns als Familie!
    Lieben Dank für Deine vielen Anregungen und Tips! Ich werde sicher einige beherzigen.
    Ich wünsche Dir und Deiner familie noch ein wunderschönes und hoffentlich sonniges Wochenende mit vielen wundervollen Momenten!
    Sonnige Grüße von Melanie

  • Liebe Uta,
    gestern erst waren prozessorientiert auf einem Spielplatz an einem (allerdings begradigten und in ein Betanbett verfrachteten) Bach. Hinter dem Bach ist ein ziemlich steiler Hang. Die Geschwister (alle drei, der Große musste mit, obwohl er meint, er sei definitiv mit 10 zu alt für so was) haben mit großer Motivation ein mitgebrachtes Seil als Kletterhilfe befestigt, haben weit oben eine echte Räuberhöhle gefunden, dann noch zwei fremden Kindern beim Staudamm und Brücke bauen gehofen. Zwischendurch gabs kurze Augenblicke der Langeweile („Können wir jetzt nach Hause?“ „Nö, ich genieße gerade die Sonne, wenn du nicht mehr klettern magst, dann fahr doch eine Runde Seilbahn.), aber irgendwie war alles total harmonisch und schön. Als das Tochterkind dann ins eisige Wasser geplumpst ist, haben wir die Siebensachen gepackt und es war ohnehin Zeit, das Abendprogramm einzuläuten.
    Ich war gut zufrieden, beobachtete meine Brut und freute mich an ihnen. Und genießte ganz faul die Sonne.
    Leider sind solche Nachmittage nicht so häufig. Da ist dann eben doch Logopädie oder Sport…
    Alles Liebe!
    SteffiFee

  • Liebe Uta,
    in der Trotzphase ist unser Piepmatz zwar noch nicht, aber die wird bestimmt nicht mehr lange auf sich warten lassen.
    Ergebnisorientiert sind wir vor allem morgens, wenn wir in die Kita und zur Arbeit wollen, beim Kochen oder wenn wir irgendwohin müssen. Die restliche Zeit ist doch überwiegend prozessorientiert: an freien Tagen im Bett rumkugeln, auf dem Heimweg von der Kita alle Tiere bestaunen, Kinder auf dem Sportplatz beobachten, lange Abstecher auf den Spielplatz, gemeinsam Staubsaugen, Ball spielen – mir würde noch so viel einfallen.
    Den Zitronenfalter haben wir noch nicht gesehen, aber gestern konnten wir eine Biene beobachten, beim „Essen“.
    Auch wenn diese Zuwendung zeitweise anstrengend ist und ich mich manchmal erwische, wie ich „abschalte“, diese gemeinsame Zeit genieße ich sehr!
    Vielen Dank für deinen anregenden Artikel, der mich bestärkt, so weiter zu machen und in hektischen Zeiten inne zu halten, um einen Gang zurück zu schalten.
    Viele Grüße und ein wunderbares Wochenende
    Marry

  • Liebe Uta,
    schon wieder total erwischt … alle drei „Komm schon“-Beispiele wende ich öfter an … nur, dass es das Eis nach der Logo gibt und ich auch dann wieder sage: Komm schon, wir müssen noch zu Budni …
    Und leider haben wir auch am WE ständig Kram zu erledigen…
    Ich finde ja, dass der Buchtitel irgendwie „unpassend“ ist. Trotzphase klingt so „gegen das Kind“, obwohl dein Zitat aus dem Buch ja eher „für das Kind“ ist. Und sagt man nicht, dass diese Phase eigentlich gar kein trotzen ist, sondern Selbstfindung oder so? Aber wie auch immer … der Inhalt des Buchs klingt spannend 😉
    Vielen Dank und liebe Grüße,
    Dorthe

    • Liebe Dorthe, du hast völlig Recht mit dem Begriff „Trotzphase“. Im Buch schreiben die Autoren auch, dass sie es lieber „Selbstständigkeitsphase“ nennen. Auf dem Titel ist es wahrscheinlich, weil es so ein gängiges Schlagwort ist und sich das Büchlein so besser verkaufen lässt. Zwischen den Buch-Deckel weht dann ein anderer Geist, sonst würde ich es auch nicht empfehlen. Dank an alle Kommentierenden und viele Grüße, Uta

  • Liebe Uta,
    Punkt 4 deiner Aufzählung werde ich wahrscheinlich nächstes Wochenende so umsetzen. Nur das Wohnzimmer werde ich sicher nicht streichen. 😉
    Die Phasen des Seins nehmen bei uns deutlich zu, seit in meinem Kopf angekommen ist, was ich mir und den Kindern mit meinem Gehetze zwischen Kita, Büro, Supermarkt, Waschmaschine, Wischlappen, Terminen, Tablet/Handy und Herd so antue. Ich bin ja momentan in der glücklichen Lage, meine Zeit frei einteilen und so alle Pflichten vormittags erledigen zu können. D.h. nachmittags und auch meist an den Wochenenden können wir die Dinge laufen lassen (außer wenn ein Herzbube Therapie oder Sport hat, was schon genug Nachmittage beansprucht). Meinen Anspruch an mich und meinen Haushalt habe ich allerdings auch herunterschrauben müssen, um gelassener Dinge auch mal liegen zu lassen und zu bewerten, ob es wirklich wichtig ist, sich jetzt gleich um die Wäsche zu kümmern, oder ob es noch warten kann.
    Ergebnis: gebastelte Fernseher aus alten Kartons (mit Platinen-Innenleben), gebastelte Pappfiguren auf Schaschlik-Spießen, Lego-Kreationen und selbst gebackene Milchbrötchen. Oft lümmeln wir auch auf dem Sofa und lesen (besonders, wenn der große Herzbube und ich müde sind) oder spielen. Wenn das Wetter mitspielt, gehen die Herzbuben gerne mit Lupe und Becher auf Insektenjagd im Garten.
    Ergebnis-orientiert sind wir morgens, damit der große Herzbube rechtzeitig in der Schule ist. Abends besonders, wenn wir Eltern kaputt sind und dringend einfach nur abschalten wollen.
    An der Buchverlosung nehme ich nicht teil.
    Herzliche Grüße,
    Frieda

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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