Feinfühligkeit und Mut zu Fehlern wichtiger als komplettes Eingehen auf Bedürfnisse
Mich interessiert brennend, wie wir das Konzept der bedürfnisorientierten Erziehung bei Kleinkindern weiter entwickeln können. Dabei bin ich in dem Buch von Professor Fabienne Becker-Stoll und ihren Mitarbeiterinnen vom Staatsinstitut für Frühpädagogik in München auf ein kurzes Kapitel gestoßen, in dem sie Stellung beziehen zur Bedürfnisorientierung. Das Kapitel trägt die Überschrift „Warum ‚Attachment Parenting‘ nicht zwangsläufig zu einer sicheren Bindung führt“.
Für euch zusammen gefasst:
- Die Wissenschaftlerinnen befürworten eine natürliche Geburt, langes Stillen nach Bedarf, Tragen des Babys in einem Tuch oder in einer Tragehilfe und Schlafen in einem Bett oder zumindest ganz in der Nähe der Eltern.
- Ihnen ist aber wichtig, diese Verhaltensratschläge aus dem Attachment Parenting nicht zu Prinzipien zu erheben, gegen die Mamas und Papas nicht verstoßen dürfen.
- Dadurch könne auf Eltern, die die einzelnen Punkte nicht umsetzen können, ein unglaublicher Druck entstehen. Vielleicht hat es trotz aller Begeisterung für die Ideen des Attachment Parenting nicht geklappt mit der natürlichen Geburt oder mit dem Stillen, vielleicht finden die Eltern selbst keine Ruhe, wenn der Säugling mit im Bett liegt, vielleicht erlaubt es der eigene Rücken nicht, das Baby ständig zu tragen … Wenn Mamas und Papas sich dann schuldig und unfähig fühlen, sei niemandem gedient. Im Gegenteil.
- Sie betonen, dass auch ohne die genannten Prinzipien (natürliche Geburt, langes Stillen nach Bedarf …) sichere Bindung entstehen kann.
- Entscheidend sei, dass die Eltern feinfühlig auf das Kind eingehen und es als eigenständige Persönlichkeit achten.
- Zu starre Prinzipien könnten die Feinfühligkeit unter sich begraben, so dass die Bindung sogar leiden würde, wenn Eltern zu sehr an einer Methode hängen.
„Viele dieser Handlungsweisen (aus dem Attachment parenting, meine Anmerkung) sind gut gemeint und als Antwort auf einen früheren autoritären Erziehungsstil in der Mehrheit der Bevölkerung zu verstehen. Auch sind diese Prinzipien größtenteils nicht ‚falsch‘ oder stehen den Gedanken der Bindungstheorie entgegen - aber sie sind nachgewiesenermaßen keine Bedingungen dafür, um eine sichere Bindung entstehen zu lassen, …“
- Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh, Julia Berkic: Bindung. Eine sichere Basis fürs Leben, München 2018, S. 112 -
Was aber sind die zentralen Bedingungen, damit eine sichere Bindung entstehen kann?
Ich fasse das bisher Gelesene zusammen und beziehe mich dabei auf Kapitel 1, in dem es allgemein um Bindung geht, und auf Kapitel 2 über das erste Lebensjahr mit Baby.
Kurz & knackig
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„Wenn die Kinder in jeder Situation eine perfekte Erfüllung ihrer Bedürfnisse erleben würden, dann wäre es für sie unmöglich, ein stabiles Gefühl von sich selbst als unabhängig von den Eltern zu entwickeln. Ein mittleres Maß an emotionalen und verbalen Antworten auf die Signale und Mikrosignale, die ein Baby sendet, scheint bei diesem hingegen einerseits die Überzeugung zu festigen, dass grundsätzlich verstanden und beantwortet wird, was es aussendet - wobei … aber auch noch genug ‚Spielraum‘ für eigene Initiative und Flexibilität bleibt, um ein stabiles Selbstgefühl aufzubauen.“
”
- Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh, Julia Berkic: Bindung. Eine sichere Basis fürs Leben, München 2018, S. 94 -
„Ein mittleres Maß“ an Reaktionen - mir hätte das in der Phase, als die Thronfolger klein waren, sehr geholfen. Nun hoffe ich, dass diese Empfehlungen euch unterstützen, das Selbstgefühl eures Kindes zu stärken und euch ein wenig zu entlasten.
Ich werde das Bindungbuch ganz durcharbeiten und hier weiter daraus berichten.
Wollt ihr mir Fragen schicken, die ihr dazu habt? Worauf soll ich bei der Lektüre besonders achten? Wofür hättet ihr gerne eine Erkenntnis oder Idee?
Ich mag das Konzept "Feinfühligkeit". Sie ist so fehlerfreundlich und gelassen.
Immer fröhlich ein Verhaltensmuster der Grundverlässlichkeit zeigen und sich nicht verrückt machen lassen,
Eure Uta
Zum Weiterlesen:
* Hier geht es um ein wichtiges Gegenwicht zur Bedürfnisorientierung, nämlich der Stärkung der Automie und zwar in ihren zarten Anfängen etwa neun Monate nach der Geburt: in meinem Interview mit ihr erklärt die Schweizer Therapeutin Rita Messmer ihr Konzept vom Nachfolgewillen.
* Hier schreibt eine Leserin, wie sie bedürfnisorientierte Erziehung und den verhaltensbiologischen Ansatz à la Rita Messmer erfolgreich kombiniert.
* Hier habe ich darüber geschrieben, wie sich die Bindung zum Vater aufbaut: zum Beitrag "Eine gesunde Portion Männlichkeit fürs Kind"
* Hier habe ich das Buch "Das gewünschtes Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn." Teil 2 von Danielle Graf und Katja Seide besprochen, die eine Bedürfnisorientierung über das erste Lebensjahr hinaus propagieren.
* In "Mein Hadern mit der Bedürfnisorientierung" habe ich geschrieben, in welcher Hinsicht ich Probleme mit dieser Philosophie habe.
PS: Photo by Josh Willink from Pexels
Liebe Uta,
das ist für mich gerade sehr spannend. In unseren Haushalt ist vor sieben Monaten eine kleine Prinzessin eingezogen und ich merke, wie der Anspruch sie immer glücklich zu machen, langsam schwierig wird. Jedoch halte ich ihr meckern (bei richtigem Weinen reagiere ich meist umgehend), sehr schlecht aus. Ich bin mir im klaren, dass das nicht gut ist, aber wie reagiert man feinfühlig? Indem man mit dem Kind spricht, aber trotzdem nicht hingeht, oder seine Dinge erst erledigt und dann auf das Kind zugeht?
Kleines Beispiel: wir sitzen am Tisch und essen, die zwei großen Brüder, der Papa, das Baby seit neuestem im Hochstuhl und ich. Die Mausi hat was zum knabbern in der Hand und bekommt auch Essen von unseren Tellern. Nach 10 Minuten ist bei ihr die Luft raus (verstehe ich), aber ich bin noch nicht fertig. Sie meckert also rum und mir schmeckt es nicht mehr. Nehme ich sie aber raus, kann ich auch nicht weiter essen, denn dann kommen die kleinen Grabschhände und wollen meinen Teller :/. Wie reagiert man in so einer Situation feinfühlig, aber bestimmt?
Vielleicht findest du ja einen Tipp in diesem Buch dazu für mich,
Liebe Grüße
Anke
Liebe Anke, danke für dieses Beispiel! Ich gehe gerne in meinem nächsten Beitrag darauf ein. Herzliche Grüße, Uta
Was ist denn mit Menschen, die diese Feinfühligkeit nicht (gelernt) haben? Wie kann ich damit umgehen, wenn ich merke, dass ein wichtiges Familienmitglied es einfach nicht auf die Reihe bekommt, feinfühlig zu reagieren?
Feinfühlig – das ist schön, aber ich glaube auch, dass es genug Menschen gibt, die machen einfach. Feinfühlig oder nicht.
Ich habe den Eindruck – wenn ich mich in meinem Umfeld so umschaue, dass es vor allem wichtig ist, dass die Eltern eine Linie haben.
Ich erlebe die größten Schwierigkeiten, wenn ein Elternteil feinfühlig ist und der andere Elternteil vor allem an der direkten Umsetzung einer Anweisung interessiert ist. Da sind die Kinder eher rebellisch und es hilft (erstmal) keine Feinfühligkeit.
Liebe Marie, du schreibst: „Wie kann ich damit umgehen, wenn ich merke, dass ein wichtiges Familienmitglied es einfach nicht auf die Reihe bekommt, feinfühlig zu reagieren?“ Feinfühligkeit ist auch eine Definitions-Sache. Was für den einen feinfühlig ist, ist es für den anderen noch lange nicht. Auf jeden Fall kann man sich darauf verlassen, dass Kinder durchaus mit unterschiedlichen Erziehungsstilen der Partner zurecht kommen, viel eher als die Partner selbst. Aus diesem Grund sind Erziehungs-Schwierigkeiten im Kern Partnerschaftskonflikte. Es ist weniger wichtig, dass Eltern „eine Linie habe“ als dass sie sich die Zeit nehmen, sich darüber auszutauschen, und „die Linie“ des anderen achten. Soweit meine Gedanken dazu. Danke für deinen Input! Herzliche Grüße, Uta