Warum Kategorien wie "richtig" und "falsch" Nähe verhindern
Vor wenigen Tagen habe ich entdeckt, dass es von meiner früheren Coaching-Trainerin einen Podcast gibt. Wenn ich nun Johannisbeeren zupfe oder Wäsche zusammen lege, höre ich das „Urheber-Prinzip“ von Kedo Rittershofer. Manches, was ich schon wußte, konnte ich auffrischen, anderes habe ich erst jetzt in seiner Tiefe verstanden. Zum Beispiel den Satz:
Moralisch-Sein verhindert Nähe.
Ein Beispiel: Bis auf meine Schwäche für Eierlikör, Eierlikörtorte und Vanilleeis mit Schokosplittern und Eierlikör mache ich mir nichts aus Alkohol. Keinen Wein zu trinken und in München im Biergarten bei einer Saftschorle zu sitzen, bedeutet für mich keinerlei Verzicht. Und zu wissen, dass ich meinem Körper damit einen guten Dienst erweise, tut mir wohl. Damit es meinen Liebsten und ihren Lebern* gut geht, lege ich gerne Zeitungsartikel auf das Bänkchen im Badezimmer, die faktenreich und wissenschaftsbasiert den sparsamen Umgang mit Alkohol empfehlen. Wie mancher beim täglichen Bierchen in die Abhängigkeit gerät, gerate ich durch Lesestoff ins Moralisch-Sein. Das ist die Pest. Der Zeigefinger will sich erheben, die Augenbrauen auch. Ich werde streng und humorfrei und das auch bei anderen Themen.
Moral ist eine gesellschaftliche Festlegung von dem, was man tut oder besser lässt. „Sag ‚Guten Tag‘ zu Tante Moni!“ - „Bedanke dich für die Geschenke!“ - „Sitz gerade bei Tisch!“ Als Eltern gerät man kraft seines Erziehungs-Amtes leicht zum Moralapostel. Kedo Rittershofer erinnert in ihrem Podcast an den alten Spruch „Gib zur Begrüßung das richtige Händchen!“, als gäbe es ein Falsches. Es ist reine gesellschaftliche Festlegung. Und in anderen Gesellschaften gelten wieder andere Regeln und in Corona-Zeiten sowieso. Jetzt heißt es plötzlich: „Bloß keine Hand geben!“
Apropos Corona. Der Virus ist wie ein Brand-Beschleuniger für das Moralisch-Sein. In Zeiten der Bedrohung sind alle auf der Suche nach dem einzig Wahren und Richtigen. Man ordnet sich einem Lager zu und wird wahlweise zum Sicherheitsfanatiker oder Freiheitskämpfer - leider oft bei gleichzeitiger Verachtung der anderen Meinung und der Menschen, die sie äußern.
Beim Obst- und Gemüsehändler traf ich das Ehepaar aus der Nachbarschaft, das regelmäßig für mehrere Wochen im Jahr in Schweden lebt. „Oh, hallo, kommt ihr frisch aus dem Land, dessen Corona-Politik so umstritten ist?“, begrüßte ich sie launig. „Umstritten nur in Deutschland“, knurrte der Nachbar. Ich ließ das Thema lieber fallen.
Ein Leben ohne Moral gibt es nicht. Sie ist so etwas wie das Stützkorsett einer Gemeinschaft. Unbehaglich wird es nur, wenn sie zur Zwangsjacke wird. Und wenn ich schreibe, man solle bloß nicht moralisch werden, bin ich wieder moralisch. Diesmal nicht über Alkoholkonsum, sondern über das Moralisch-Sein. Das ist eine Falle, in die ich regelmäßig tappe. „Achtung, liebe Leserinnen! Bloß nicht moralisch werden!“ Schon bin ich versucht, mehrfach auf das Ausrufezeichen zu hämmern und - schwups - hören wir das ‚Wort zum Sonntag‘ live aus dem Katzenklo.
Zumindest habe ich Folgendes erkannt: Wenn es also nicht möglich ist, moralfrei zu leben, so führt es doch zu einem erfüllteren Leben, wenn man nicht allzu moralisch unterwegs ist. Moralisch-Sein, heißt es in dem Podcast, sei weder gut noch schlecht. Aber es habe Konsequenzen. „Es verhindert ein dauerhaft glückliches Leben.“
Es verhindert ein dauerhaft glückliches Leben? Wieso?
Der Grund ist, dass Menschen auf Distanz gehen, wenn jemand sich als Moralapostel gebärdet. Niemand hat Lust, auf längere Zeit von einer anderen Person als schlechter Mensch bewertet zu werden. Niemand hat Lust, mit jemandem Zeit zu verbringen, der sich über einen stellt, der von einen höheren Warte zu einem spricht. Denn das passiert immer, wenn jemand mit Moral um die Ecke kommt.
In Elternkreisen findet sich dafür ein guter Nährboden, will doch jede Mama, jeder Papa bei den Kindern „alles richtig machen“.
„Wie? Die Kleine darf nicht bei euch im Bett schlafen?“ Und schon gibt es schiefe Blicke. Oder auch umgekehrt. "Wie? Die Kleine schläft immer noch bei euch im Bett?“ Und man meint, hinter der Stirn der Fragenden den Gedanken laufen zu sehen: „Die haben wohl ein Abnabelungs- oder Partnerschaftsproblem.“
Unendlich viele Themen bieten sich an, um konkurrierende Lager zu bilden: Schnuller verwenden? Zucker erlauben? Plastikspielzeug verbannen? Fernsehen lassen? Tragetuch oder Karre? Ernährung mit Bio-Fleisch, vegetarisch oder vegan? Staatliche oder freie Schule? Drohte früher das Fegefeuer, wenn Klein-Claudia zur Begrüßung das falsche Händchen reichte, wird es heute entfacht, wenn Klein-Tilda im eigenen Bett schlafen muss oder Klein-Claas in die Tüte mit den Industrie-Gummibären greifen darf.
„Denkst du auch die ganze Zeit: ‚Ist das, was ich mache, gut und richtig, oder ist es schlecht und falsch?“, fragt Kedo Rittershofer in ihrer Podcastfolge über Moral. Haben sich „richtig“ und „falsch“ als Kategorien aus Kinderzeiten fest in deine Bewertungssysteme eingebrannt? Hast du als Grundrauschen in deinem Kopf die Sorge, irgendein Fehler könnte fatale Folgen haben?
Wer sehr moralisch unterwegs ist, hat Angst. Angst vor Bestrafung. Angst davor, ausgeschlossen zu werden. Angst, aus der eigenen „Blase“ zu fliegen. Meistens ist es eine alte Kindheitsangst. „Wenn ich bloß alles richtig mache,“ denkt man, „kann mir nichts passieren.“
Nur - wer macht schon alles „richtig"? Was ist überhaupt „richtig“? Wer definiert das? Und ändert sich das in diesen Turbo-Zeiten nicht täglich?
Wie komme ich aus der Moral-Falle?
Bei welchem Thema denkst du „Das muss ich unbedingt richtig machen?“ Ich freue mich sehr, wenn ihr mir eure Erfahrungen mit Moral schreibt.
Immer fröhlich den inneren Scharfrichter in die Wüste schicken,
eure Uta,
die vorgestern die Druckfahnen des neues Buches zum Korrekturlesen bekommen hat. Wenn das kein Grund ist, sich ein Stück Eierlikörtorte zu genehmigen!
* der Plural von Leber ist tatsächlich "die Lebern". Ich habe es nachgeschaut.
Liebe Uta,
Ich verstehe unter Moral etwas anderes: Moral gibt mir einen inneren Kompass. Es hat für mich sehr viel mehr mit Werten als mit Bewerten und der Einteilung in richtig und falsch zu tun. Ich finde es wichtig, Kindern einen solchen Kompass mitzugeben.
Liebe Grüße steffifee
Liebe Steffifee, danke für deinen Hinweis! Ja, Werte zu vermitteln, ist wichtig. Das tun wir am stärksten durch unser Vorleben. Was ich hier meine, ist dieses „Sieh es ein, ich weiß es besser!“, vorwurfsvolle, belehrende und sich überlegen gebende Haltungen anderen Menschen und insbesondere Kindern gegenüber. Herzliche Grüße, Uta
Ich sag den Kindern immer: Klugscheisser mag keiner ? die Mitteltochter kann das gut und ist immer sehr bedacht darauf, dass es korrekt zu geht. Was das „richtig“ und „falsch“ bei der Erziehung betrifft ist es teilweise wirklich nicht leicht und mag auch schon mal Freundschaften an die Grenzen bringen. Allerdings fühle ich mich gerade in der Hundeschule genauso wie auf dem Spielplatz ? Hundebesitzer sind da nicht anders und ich trau mich nicht zu sagen, dass das jüngste Mädchen im Haus ins Bett der Tochter hüpft ?
Das mit der Hundeschule glaube ich sofort. ?LG Uta