Allein auf dieser Umlaufbahn 

 05/07/2015

Warum Teenager genug mit sich selbst zu tun haben und keine mäkeligen Eltern gebrauchen können.

Vor ein paar Tagen haben wir uns mit zwei Paaren aus der weitläufigen Bekanntschaft getroffen. Die Gespräche liefen schleppend. Mein Mann und ich stellten eine Frage nach der anderen. Umgekehrt gab es wenig Interesse oder zumindest keine Fragen nach unseren Kindern, unserer Arbeit, den Katzen, unserem Befinden. Nichts.
Vielleicht müssen wir selber mehr erzählen, dachte ich nachher.
Vielleicht sind wir beide zu sehr Journalisten und erliegen auch privat den Interviewtechniken.
Vielleicht zeige ich nur Interesse an anderen Menschen, um unbewusst zu erreichen, dass sie sich auch für mich interessieren und anfangen, meine Stille-Wasser-Tiefen auszuloten.
Ich stand auf, ging quer durch den Biergarten, um die Toilette aufzusuchen. Plötzlich hatte ich das unbändige Verlangen, mich durch das Oberlicht über dem Waschbecken zu quetschen, auf die Mülltonnen im Hinterhof zu springen und einfach zu verschwinden. Meinem Liebsten würde ich aus dem Auto eine Whatsapp senden und ihn an der nächsten Kreuzung aufgabeln. Dann könnten die Bekannten noch ein Bier bestellen und den Brotkorb volltexten.
An den Leuten ist nichts auszusetzen, wirklich reizend. Sonst hätten wir uns nicht mit ihnen verabredet. Aber es ist wohl die Sache mit der Wellenlänge. Man ist auf einer anderen unterwegs. Und je länger die Wellen der anderen plätschern, um so schwerer fällt es einem, sich nicht falsch zu fühlen, nicht informiert genug, nicht witzig genug, nicht interessant genug …
Ich weiß, dass an uns nichts falsch ist. Trotzdem kostet es so viel Energie, gegen dieses Gefühl anzuarbeiten. Und kaum ist man zu Hause, schleudert man die engen Ballerinas in die Ecke und hält mit letzter Kraft die Zahnbürste.
Klar, wir werden uns mit diesen Leuten nicht mehr verabreden. Wozu sich das antun? Wir sind alt genug.
Aber für etwas anderes war dieser Abend gut. Plötzlich konnte ich in jeder Zelle nachempfinden, wie sich wohl ein Teenager fühlen muss, der nicht so recht landen kann bei Gleichaltrigen.
Der Schweizer Mediziner Remo H. Largo, früher Leiter der Abteilung „Wachstum und Entwicklung“ am Kinderspital Zürich, schreibt in seinem Buch „Jugendjahre“, dass Jugendliche drei Grundbedürfnisse haben:

  • Geborgenheit (= sich aufgehoben fühlen in einer Familie)
  • Selbstverwirklichung (= erleben, dass man Fähigkeiten hat und auf irgendeinem  Gebiet etwas bewirken kann)
  • soziale Akzeptanz (= anerkannt sein unter Gleichaltrigen)

Für die Heranwachsenden sind das große Herausforderungen. Sie erleben die größten körperlichen Veränderungen in ihrer Kindheit, sind in einem Körper unterwegs, der sich komplett umgestellt hat, und wissen noch nicht, wie die anderen Peers das so finden. Was ist mit meinen Beinen? Wird dieser Pickel auf meiner Stirn Thema in den sozialen Netzwerken? Bin ich cool genug? Und vor allem: bin ich nicht zu dick?
Dieser Stress zeigt seine Auswirkungen:
Der Häufigkeitsgipfel von Magersucht liegt bei 14 Jahren. („Jugendjahre“, Seite 217)
Depressionen sind die häufigste psychische Störung in der Pubertät. („Jugendjahre“, Seite 225)
In den vergangenen Jahren hat das Ritzen deutlich zugenommen. („Jugendjahre“, Seite 227)
Die Suizidrate nimmt ab einem Alter von 14 Jahren dramatisch zu. („Jugendjahre“, Seite 228)
 

Als ich das alles las, dachte ich: das Letzte, was Jugendliche brauchen, sind Eltern, die ständig an ihnen herummäkeln. Sie fühlen sich schon mit den Mitschülern häufig so, als wären sie der einzige auf dieser speziellen Umlaufbahn. Das kostet so viel Kraft.  Und wenn dann auch noch in der Schule Erfolgserlebnisse ausbleiben, brauchen sie wenigstens zu Hause einen Menschen oder zwei, die finden, dass sie in Ordnung sind, so wie sie sind. Und zwar zu 100 Prozent.

Manchmal habe ich mit Eltern zu tun, die sagen, sie finden ihr Kind zu 50 oder vielleicht 60 Prozent in Ordnung.
Schlechte Nachricht: Das reicht nicht!!!
Immer fröhlich zu 100 Prozent sein Kind so akzeptieren, wie es ist.
Eure Uta
PS1: Hier habe ich eine Besprechung des Klassikers „Weltwissen der Siebenjährigen“ von Donata Elschenbroich hinzugefügt.
PS2: Und hier kann man wunderbar warmherzige und witzige Geschichten einer Grundschullehrerin lesen.

  • Da bin ich aber froh das es dir auch so geht;) ok froh ist evtl nicht das richtige Wort… Aber dieses Gefühl nach solchen Treffen nicht interessant genug zu sein ect. Da hatte ichbimmer da Gefühl das geht nur mir so;)
    Aber nun eine andere Frage, wie schaffe ich es diese 100% ? Ja du hast völlig recht jedes Kind hat das recht das die Eltern 100% hinter ihm stehen! aber fällt das auch nicht schwer? Wenn ich sehe wie sich unser Sohn manchmal selbst im Weg steht, wie manches Verhalten einfach Reaktionen von anderen Kindern hervorruft die er so nicht möchte…..
    Liebe Grüße Silke

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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