Die 10 wichtigsten Erkenntnisse einer Erziehungsberaterin, die seit 35 Jahren bei einem städtischen Jugendamt tätig ist, und eine neue Gewinnerin.
Heute habe ich mit Beate telefoniert. Beate ist eine Freundin meiner Freundin Greta und als Erziehungsberaterin in einem Jugendamt im Ruhrgebiet tätig.
Zwei Stunden haben wir gesprochen. Für mich ist das so wertvoll, weil sie sich keiner bestimmten Erziehungstheorie verpflichtet fühlt, sondern ihre Erkenntnisse gewonnen hat aus 35 Jahren täglicher praktischer Arbeit mit inzwischen Hunderten von Eltern. Von diesem Austausch bin ich so inspiriert, dass ich die für mich wichtigsten Sätze von Beate mit euch teilen möchte. Los geht’s:
- In einem Elternkreis, den sie geleitet hat, war eine ihrer ersten Botschaften an die Eltern: „Nehmt Abschied von eurem Perfektionismus und von der Vorstellung, alle hätten permanent glücklich zu sein.“ Für viele sei es überraschend oder sogar ein Schock, dass es eben auch stressig ist, Kinder zu haben, und dass das auch sein dürfe.
- Ganz furchtbar findet Beate, wenn Beratung zu so einer „Klugscheißer-Darbietung“ des Pädagogen oder Psychologen gerate. Sie würde sich bemühen, bei jeder Mama und jedem Papa zu gucken: Was macht eure ganz individuelle Erziehung aus? Was funktioniert für euch? Und wo kann man bei Bedarf vielleicht etwas ändern? Sie begleitet die Eltern in diesem Prozess und freut sich, wenn diese von selbst darauf kommen, was sie verändern können. „Ich helfe den Eltern“, so Beate, „die Kenntnisse, die sie schon haben, neu zu sortieren.“
- Wenn sie auf ihre 35 Jahre im Job zurückblickt, stellt sie fest, dass Eltern immer stärker irritiert sind im Umgang mit ihren Kindern. Sie hätten superhohe Ansprüche und gleichzeitig hätten sie kaum noch Vertrauen in ihre innere Stimme. Das Bauchgefühl für den Umgang mit dem Kind sei bei vielen völlig verschüttet, so dass sie im Außen, zum Beispiel in Ratgebern suchten, wie sie sich „richtig“ verhalten könnten. Diese Intuition der Mama für ihr Kind wieder ins Licht zu holen, ist vielleicht das Wichtigste in ihrer Beratung.
- Manche Mama komme zu ihr und setze das Kind quasi auf dem Schreibtisch mit der Bitte: „Jetzt repariere das mal!“ Aber kein Kind falle als Tyrann vom Himmel. Es gehe immer darum, mit den Eltern zu gucken, was diese verändern könnten. Wenn Mama und Papa merkten, dass es in erster Linie um sie und um ihre Haltung zum Kind ginge, würden etliche die Beratung abbrechen, weil es ihnen zu anstrengend sei, bei sich selber hinzugucken und etwas zu verändern.
- Wenn man auf Erziehungsphilosophien zu sprechen kommt, sagt Beate, dass sie die Idee Jesper Juuls, als Eltern für die eigenen Grenzen einzustehen, anderen Konzepten vorziehen würde. Wenn ein Erwachsener für seine eigene Grenze eintritt, hätte das zwei Vorteile: A) Das Kind lerne am Modell und lerne also auch seine Grenzen zu ziehen. Und B) es erfahre, dass andere Menschen auch Grenzen haben, die man möglichst nicht übertritt, wenn man in guter Gemeinschaft leben möchte.
- Danach gefragt, wie sie zu „Attachment parenting“ (Bindungs- bzw. bedürfnisorientierte Erziehung) stehe, sagt Beate, dass das AP viele wichtige Aspekte enthalte und dass sie auch davon überzeugt sei, dass es das Erste und Wichtigste sei, einem Kind Geborgenheit zu schenken. Aber etwa nach dem ersten Lebensjahr müsse ein Kind so langsam lernen, dass es nicht „der Nabel der Welt“ sei. Und nur wenn seine Eltern ihm das beibringen würden, würde es auch lebensfähig. „Wenn wir das nicht machen, zu welcher narzisstischen Prägung führt das!?“
- Klar gebe es ein Machtgefälle zwischen Eltern und Kindern. Erwachsene seien körperlich und in ihrer Erfahrung und Reife überlegen. Die Herausforderung sei, sich „meiner Stärke als Erwachsener verantwortlich bewusst zu sein und sie nicht zu missbrauchen“. Wenn Erwachsene hohle Drohungen aussprechen oder Strafen verhängen würden, dann sei das immer ein Zeichen von Schwäche, dann bräuchten sie Drohszenarien, weil sie das Vertrauen in ihre eigene Stärke verloren hätten.
- Wir sprachen auch darüber, ob Eltern immer an einem Strang ziehen sollten. Dabei waren wir uns einig, dass es nicht darum geht, auf Gedeih und Verderb einer Meinung zu sein, aber dass ein Kind keinen Erfolg damit haben sollte, seine Eltern zu spalten. Beispiel: Ein Papa ärgert sich über den permanenten und mit fäkalen Schimpfwörtern ausgetragenen Streit seiner Söhne beim Abendessen und sagt: „Ich halte das nicht aus. Ich möchten in Frieden essen können.“ , nimmt sein Käsebrot und isst es im Arbeitszimmer. Wenn Mama jetzt als Reaktion auf ihren Mann die Augen rollt, haben es die Kinder geschafft, die Eltern zu spalten. Viel mehr ist für alle gewonnen, wenn Mama zum Beispiel sagt: „Ich kann gut verstehen, dass Papa gegangen ist.“
- Großen Wert legt Beate auf die innere Haltung der Eltern. Wenn ich bei meinem weinenden Baby am Bettchen hocke, seine Hand halte und streichele und es so still begleite, bis es eingeschlafen ist, kann ich denken: „Oh, mein armes, armes Kind, was tue ich dir an?“ oder ich kann denken: „Ich tue dir etwas Gutes. Ich bleibe bei dir, egal was passiert. Ich helfe dir, in den Schlaf zu finden. Und du kannst dich auf mich verlassen. Ich habe den Mut und die Kraft, auch schwierige Situationen mit dir durchzustehen.“
- Als ich sagte, ich hätte großes Verständnis dafür, dass zum Beispiel Eltern mit einem Neurodermitis-Kind da hinein geraten könnten, sich nur noch um das Kind und seine Bedürfnisse zu drehen, meinte Beate: „Man kann mit jedem anderen Thema in diese Situation rutschen. Auch wenn das Kind gar nichts hat.“ Gerade hätte sie eine Mama in der Beratung gehabt, die davon überzeugt war, ihr mittleres Kind sei benachteiligt, weil es ein Sandwich-Kind sei. „Da hat der Junge erstmal nix und von heute auf morgen ist er auf einmal benachteiligt.“ Beate weiter: „Wenn die Haltung nicht stimmt, gibt es genügend Gelegenheiten, das Kind in die Opferrolle hineinzuphantasieren.“
Wenn ich Beates Grundlinie in ein paar Worten zusammenfassen würde, käme ich auf folgende Stichworte:
Viel Geborgenheit, gute Beziehung zum Kind, roter Faden in meinem Verhalten als Eltern, auf meine innere Stimme vertrauen, für meine eigenen Grenzen einstehen und auf meine Haltung zum Kind und zur Situation achten.
Immer fröhlich euer Bauchgefühl stärken,
eure Uta
PS: Noch so ein Satz von Beate: „An der Bettkante führt man die wichtigsten Gespräche.“
Das Titelbild ist von Ketut Subiyanto von Pexels. Vielen Dank!
Liebe Uta,
ich bin über den Teil mit den super hohen Ansprüchen gestolpert, da ich auch den Eindruck habe. Es ist aber so subtil, nicht greifbar für mich, weil ich nicht auf eine lange Erfahrung zurückgreifen kann. Ich spüre den Druck vor allem in/von der Schule (ab 1. Klasse) und aber auch von anderen Eltern. Wenn Kinder nicht mitlaufen, sind sie verloren. So mein Gefühl. Und das schlimme ist, dass ich selbst mit mir kämpfe, keinen Druck zu machen und trotzdem den Druck weitergebe, den ich spüre. Und dieses wankelmütige von mir, nervt mich, weil ich so auch den Kindern nicht die Sicherheit geben kann, die ich mir wünschte. So dreht sich im Kopf letztendlich doch viel um die Kinder – wie mache ich es richtig, usw…
In der Theorie klingt alles so logisch und simpel. In der Praxis ist es leider nicht so einfach. 🙁
Viele Grüße,
Marie
Liebe Marie, ich sehe das auch mit Schrecken, dass schon in der Grundschule der Leistungsdruck immer größer wird. Und ich wünsche mir ganz viele Eltern, die mutig dagegen halten. Freude an Bildung? Ja, immer! Vorlesen, ins Theater gehen, mit Freude lernen, immer Papier und Stifte zum Malen bereit halten, aber dieser Leistungsdruck für Kinder ist Gift. Lass die Mamas und Papas, die schon bei den unter Zehnjährigen meinen, es müssten immer die besten Noten sein, nicht die Überhand gewinnen. Ich bin ja jetzt in der Situation, dass sich nicht nur immer deutlicher abzeichnet, was aus unseren beiden Kindern wird, sondern auch aus ihren zahlreichen Freunden. Wie oft gab es mal Sorgen bei den Eltern, dass sie es nicht schaffen würden? Wie sehr hat man sich manchmal gestresst mit dem ganzen Schulkram. Und heute reibt man sich die Augen und ist begeistert, was aus denen alle wird. Manches anders als gedacht, aber oft noch schöner. Viele sagen sich: „Ach, bitte: ich will die Zeit zurück haben, wo sie noch kleiner waren. Und dann würde ich sie ohne Angst und Stress begleiten, wenn ich nochmal zu tun hätte.“ Ihr seid jetzt in der Situation! Ihr habt die Chance, ihnen zu vermitteln, dass Lernen Freude macht, auch wenn es gerade nicht das ist, was in der Schule dran ist.
Joanna von „Liebesbotschaft“ hat vor sieben Jahren einen Blog-Post zu Schule geschrieben, der so klasse war, dass er mir auch nach so langer Zeit noch im Gedächtnis ist: https://www.liebes-botschaft.com/2011/10/die-bildungsrefor.html
Ach das stimmt. Den Blogpost habe ich auch mal gelesen, das war aber zu einer Zeit, als ich das selbst noch 100%ig so gesehen habe. Vielen Dank fürs erinnern und deine Ermutigung!
♡
Hallo Uta,
Vielen Dank für den Link!
Jetzt habe ich einen neuen Blog in meiner (aus Zeitgründen) ausgesuchten und minimalistischen Liste. 😀
Irgendwie hat mich dieses „sich keinen Druck machen“ an meine Jüngste erinnert. Inmitten von Kleinkindchaos, Zeitdruck, Streit zwischen den zwei Größeren und Erziehungsbemühungen meinerseits sitzt sie, gibt vergnügte Gluckser von sich und lässt über allem die Sonne aufgehen.
Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder….
Entspannt, zuversichtlich, fröhlich und energiegeladen.
Mein Kühlschrank hat übrigens kaum noch Platz für alle Notizzettel mit Lebensweisheiten. 😀
Gruß
Nelli
Hallo Uta,
vielen Dank für den Artikel, sind wir doch im Ruhrgebiet zu Hause. Ich finde die Erwartungshaltung und den Druck heute zeitweise ganz schlimm. Wir haben das große Glück noch eine Zwergenprinzessin (4)im Haus zu haben. Ihre Schwestern sind 13 u 15 und ich kann bei ihr heut vieles gelassener sehen, weil ich weiß das sie ihren Weg gehen wird, egal ob sie mit 4 ihren Namen nicht schreiben oder Radfahrern kann. Mehr Gelassenheit und Vertrauen in die Fähigkeit der kinder halte ich für wichtig.