Was uns wirklich wichtig ist, das setzen wir durch. Das andere, das war uns wohl auch nicht wichtig.

Als Sadia, unsere afghanische Pflegetochter, bei uns war, habe ich mit ihr um einiges gerungen: dass sie sich die Zähne putzte, dass sie nicht so viel Eis aß, dass sie in die Vorschule ging, dass sie Fahrradfahren lernte, dass sie sich wohl fühlte, …
Wann bleibt man hart, wann lässt man es laufen? Die alten Fragen.
Den Morgen, an dem ich ihr sagte, sie bräuchte nicht mehr in die Vorschule zu gehen, werde ich nicht vergessen. Sie war so glücklich. Und als ich ihr erklärte, wir würden stattdessen – zum ersten Mal – in ein Schwimmbad gehen, glühte sie vor Freude. Sofort schlüpfte sie in den Badeanzug, half mir, die Handtücher zusammen zu legen, holte mein Smartphone, damit ich im Bild festhalten konnte, wie Sadia, sieben Jahren alt, von Zuhause allenfalls Wasser aus einem Brunnen gewöhnt, zum ersten Mal ein Bäderland betrat.
„Wir lassen das mit der Vorschule, aber ich möchte, dass du jeden Tag die Zähne putzt und Radfahren lernst, und ab und zu werden wir Schwimmen gehen.“ Ein Handschlag, ein Strahlen. Es war abgemacht.
Erst war sie ganz begeistert, als wir das gebrauchte kleine Rad aus dem Second-Hand-Laden aus dem Kofferraum hoben. Sie stieg sofort auf. Als sie aber merkte, dass sie nicht einfach losfahren konnte, sondern erst üben musste, wurde sie bockig. Sie warf das Fahrrad um, schimpfte auf die Lenkung, wütete wegen der Pedale, die nie standen, wie sie sollten. Nein, Fahrradfahren, das wollte sie überhaupt nicht mehr.
Es war eine Phase des Widerstands gegen alles mögliche. Und erschöpft von den Kämpfen, die wir miteinander ausfochten, überlegte ich mir eines Abends, was mir wirklich wichtig war. Ergebnis: Fahrradfahren. Auch um den Preis der Harmonie, ja – und das wird jetzt vielleicht viele schrecken – auch um den Preis, Druck ausüben zu müssen. Denn wenn sie es einmal konnte, würde sie ihr Leben lang davon profitieren.
Ich hatte eine starke Absicht für Sadia und das wirkte.
Am anderen Tag lud ich das Fahrrad in den Kofferraum und fuhr mit ihr an einen breiten Elbuferweg, wo wir gut üben konnten. „Das!“, sagte sie und zeigte auf das grüne Rad, „das nein!“. – „Das!“, sagte ich und zeigte auf das grüne Rad, „das, doch!“ und hob es auf die Straße. Es folgte ein fast zweistündiges Ringen. Alle Angebote, sie am Sattel fest zu halten, ihr mit einem Gürtel um den Bauch mehr Sicherheit zu geben, lehnte sie ab. Kaum war sie aufgestiegen, stieg sie auf der anderen Seite schon wieder ab. „Das nein!“ – „Das doch!“ – „Das nein!“ – „Oh, doch!“
Erschöpft saßen wir auf einer Bank an der Elbe, vor uns das kleine Rad und der glatteste Teerweg, den sich ein Radfahrer nur wünschen konnte: eben, breit, schwarz in der Sonne glänzend. Wir saßen und starrten auf die Elbe. Ein paar Hundert Bruttoregistertonnen auf Schiffen schoben sich an uns vorbei, dazwischen Segelschiffe, Fähren. Wir sagten nichts. Wer zuerst zuckt, stirbt.
Schließlich radelte ein kleiner Junge an uns vorbei, jünger als Sadia. Immer wieder umkreiste er die Rasenfläche hinter uns. Ein begeisterter Radler. Von Runde zu Runde schien er mehr Spaß zu haben, fuhr immer schneller. Wer hatte mir den geschickt?
Ich musste an den Satz denken, dass uns das Universum (oder wer auch immer) unterstützt, wenn wir etwas wirklich wollen und bereit sind, uns mit aller Kraft dafür einzusetzen.
„Wenn du noch einmal auf das Rad steigst, Sadia, und mit meiner Hilfe versuchst, bis zu dem Papierkorb dort vorne zu kommen, fahren wir nach Hause und üben erst morgen weiter“, sagte ich.
„Okay!“
Hatte sie gerade „Okay“ gesagt? Ich konnte es kaum fassen. Sie stieg auf, ließ sich endlich helfen, kam in Schwung, fuhr allein ein paar Meter, war glücklich, strahlte, übte noch ein bisschen weiter. Wir fuhren nach Hause, trainierten dann jeden Tag ein bisschen. Und vor ihrer Abreise konnte sie Radfahren.

Erkenntnisse:

  • Eine starke Absicht wirkt.
  • Sich immer fragen, was mir wirklich wichtig ist.
  • Der eigenen guten Absicht für das Kind und der eigenen Stärke vertrauen.
  • Und wenn ich etwas nicht erreiche, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte, untersuche ich ohne Schuldgefühle, welche versteckte Absicht gewirkt haben könnte.

Eine kurze Erklärung zum letzten Punkt:
Im Nachhinein wurde mir klar, warum das mit der Vorschule nicht geklappt hatte. Ich hatte die Absicht zu beweisen, dass ich das besser kann, ein siebenjähriges Kind sinnvoll zu beschäftigen als die Vorschullehrinnen. Das hat geklappt. Sadia wollte lieber bei mir bleiben, als in die Schule zu gehen. (Ob ich allerdings wirklich kompetenter bin als die Pädagogen dort, sei dahin gestellt :-))
Immer gucken, mit welchen Absichten wir unterwegs sind und an den Ergebnissen untersuchen, welche Absicht wohl gewirkt hat.
Eure Uta

  • Hallo,
    ich glaube auch, dass die Kinder spüren, wenn einem etwas wirklich am Herzen liegt oder ob man eine Entscheidung halbherzig trifft.
    Hier merke ich zumindest, dass meine Kinder das nutzen, wenn ich selbst denke: naja…
    Und wenn ich richtig hinter mir selbst und meiner Entscheidung stehe, dann versuchen die Kinder auch nicht zu verhandeln…
    Also, wenn die Absicht stark genug ist, ist der Rest schonmal viel leichter 🙂
    Und sich selbst hinterfragen: Warum ist mir das nun so wichtig? Muss ich auf meinen Standpunkt bestehen oder gibt es Spielraum?
    Also das Ziel/die Absicht dahinter einsortieren hilft auch, um sich klar zu werden, ob es eine starke Absicht ist- und wenn sie stark ist und man sich dessen bewusst ist, ist es wieder leichter…
    Und wenn man dann merkt: hm, gar nicht so wichtig- dann kann man sich viel Kraft, Aufwand, Zeit und vielleicht auch Tränen sparen.
    Das klingt nun so wahnsinnig kompliziert und zeitaufwendig, aber das sind Abläufe, die im Alltag mit ein wenig Übung und Reflektion fast schon nebenbei statt finden.
    Wichtig finde ich auch, dass man ggf. nicht stur auf seinen Weg besteht, sondern auch eingesteht, wenn man eine falsche und nicht so starke Absicht erkennt- dann wird darüber geredet und ein anderer Weg genommen.
    Liebe Grüße

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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