Uta: Was meinst du mit „authentisch ins Gespräch gehen“? Wie sieht das aus?
Anna: Für mich ist es authentisch, wenn ich frei mit meinem Kind spreche – habe ich grade Mitleid und weiß genau um die Tatsache, dass Nils furchtbar müde ist, eigentlich im Stehen einschlafen könnte und jeder Gang, jedes An- und Ausziehen eigentlich zu viel sind, zeige ich das mit Wort und Stimme und hole ihn dadurch ins Boot und er kooperiert schneller bzw. besser. Würde ich aber 3m entfernt stehen und sehr bestimmt, etwas zu laut plus genervt kommandieren „Ausziehen!“, „Ins Bad!“, „Mund auf!“, würde Nils einfach kapitulieren und heulen: „Ich will nicht mehr! Ich putze keine Zähne! Ich wasche keine Hände!“ und ich würde wütend und noch genervter werden.
Uta: Ist es nicht authentisch, wenn Christopher mal ein Kommando gibt? Ist das vielleicht seine Art, authentisch zu sein?
Anna: Kommandos: Ja, das ist manchmal sicherlich authentisch und auch völlig okay! Lange diskutieren bzw. meinen Standpunkt ewig deutlich machen, davon halte ich auch nicht in jeder Situation etwas. Aber wenn Christopher eigentlich selbst Mitleid hat, was der Fall ist, ihm die ganze Situation leid tut (wir haben zu spät gegessen oder das Kind zu spät aus dem Garten geholt, Kind klappt schon halb zusammen), könnte Christopher das einfach zeigen und deutlich machen. Davon wird Nils nicht langsamer und unkooperativer, im Gegenteil. Nils geht eher in eine Art Machtkampf. Ich glaube, das ist auch normal: Christopher: „Zähneputzen!“ Nils „Ich putz mir nicht die Zähne! Das ist Arschlosch!“ oder macht einfach ganz zu, weint und zetert.
„Motzton“: Authentisch ist auch kein Motzton. Davon schrieb ich ja, dass der Umgangston plötzlich genervt und teilweise motzig ist. Wir haben auch herausgefunden, warum. Jetzt wird es lang, entschuldige bitte! Aber es ist DIE Erkenntnis!
Es gab vor ein paar Wochen eine Zeit, da war ich stressbedingt schnell genervt und habe diese Stimmung Nils entgegen gebracht, obwohl er nichts damit zu tun hatte. Ich bin oft zu laut geworden und habe auch mal gebrüllt. Vorher eigentlich nie. Die ersten Male waren seltsam und mein Gebrüll hat mich erschreckt. Es tat mir leid im Nachhinein, es war ein doofes Gefühl, aber währenddessen war es tatsächlich etwas befreiend. Die nächsten Male waren aber schon gar nicht mehr so seltsam, es fiel mir leichter, laut zu werden und so wurde ich es öfter. Christopher war davon ziemlich perplex, sprach mich öfter an, sagte mir, dass das überhaupt nicht angemessen war für die jeweilige Situation. Nils „Fehlverhalten“ sah er jedoch auch. Hatte aber keine Idee, wie man besser darauf reagieren könnte. Und ganz unbewusst hat er sich gedacht: muss man wohl so machen. Das wurde uns aber erst jetzt klar! Ich habe mich aber nach einiger Zeit besonnen (ohne Christopher das mitzuteilen, der Alltag ging einfach weiter), habe meinen Ton geändert und mir wurde bewusst, dass das mein ganz eigenes Problem war und Nils eigentlich völlig okay ist, vor allem sehr normal für einen Sechsjährigen. Christopher währenddessen begann nun seinerseits damit (erstmals) einen motzigen, patzigen und viel zu lauten Ton anzuschlagen. Er wurde immer lauter. Ich sprach ihn an und war völlig entgeistert (mein voriges Verhalten hatte ich da schon vergessen). Er wehrte aber ab und sagte, dass das alles nicht so weiter ginge. Wir müssten härter durchgreifen. Wenn er so unkooperativ sei, würde er wirklich Schwierigkeiten in der Schule bekommen und sofort in eine entsprechende Schublade gesteckt werden. Ich war völlig entgeistert. So sah ich das Ganze nicht. Es lief so weiter, wir meckerten uns gegenseitig an. Bis zu dem Abend, als es mir zu viel wurde und ich zufällig deinen Aufruf las. Wir sind uns nun ziemlich sicher, auch wenn sich das komisch anhören mag, dass Christopher sich meine Stimmlage abgeguckt und etwas modifiziert hat. Diese Einsicht hatte übrigens Christopher zuerst. Du sprachst in einem Artikel davon, dass sich das Geschrei wie eine Tonspur unter den Alltag legt. Zack, das ist uns hier passiert! Das doofe: Nils hat es sich ziemlich sicher nun von uns abgeschaut. Sein Ton ist immer öfter und immer heftiger motzig, laut und unfreundlich. Natürlich nicht immer!
Uta: Welche Bewertung hast du über Kommandos?
Anna: Wenn sie in dem Moment nötig sind, okay. Aber nicht als Prinzip, nicht angewöhnt, nicht als Grundton! Sondern dosiert.
Uta: Was denkst du darüber, wenn eine Mutter oder ein Vater den „Bestimmer spielt“?
Anna: Den Bestimmer „spielen“ finde ich doof und nervt mich sehr. Sieht man ja öfter auf dem Spielplatz. Bestimmer „sein“, in gewissen Momenten, finde ich wichtig! Aber auch hier – nur wenn es die Situation verlangt.
Uta an Christopher: Wie kommst du zu der Annahme, dass Nils in der Schule nicht auf den Lehrer hören wird?
Christopher: Die Frage kann ich nur schwer beantworten. … Die aktuelle Situation in der Vorschule lässt mich in diese Richtung denken.
Nils besucht derzeit eine Vorschulklasse einer Waldorfschule (Stadt), ab kommendem Schuljahr dann die reguläre 1. Klasse hier bei uns im Dorf. Er musste bereits zwei- bis dreimal „Sanktionen“ erleben, da er sich beispielsweise nicht an Regeln beim Frühstück halten konnte und den Ermahnungen der Lehrerin nicht gefolgt ist. Er musste dann im Nebenraum alleine frühstücken. Dies mag er in der Situation „cool“ hinnehmen, zu Hause bricht er dann nach einer längeren „Ausbrützeit“ heraus und er ist tief unglücklich, erschrocken und traurig.
– – ab hier nun keine direkte Antwort mehr auf die Frage, aber die Begründung meiner Befürchtung – –
Die neue 1. Klasse (andere Schule) werden zwischen 30 und 34 Kinder besuchen. Die Lehrkräfte dort sind eher oldschool und Schüler werden vorschnell in Schubladen gepackt. Dies wissen wir von einer engen Freundin, die dort Lehrerin ist. In so einer großen Gruppe, bei einem solchen pädagogischen Konzept wird die Klasse sehr eng geführt werden, das „Mitmachen“ und „Regelnbefolgen“ wird für die Lehrkraft von hohem Wert sein. Zudem weiß ich als Lehrer und als Mensch, dass leider die ersten Wochen den Eindruck entscheidend prägen. Ich befürchte, dass Nils durch sein Verhalten, durch das häufige (befürchtete) „Nein“ und seine „coole“ Art, mit der er seine weiche Seite verdeckt, Attribute zugeschrieben werden, die sich in der Meinung der Lehrer, der Mitschüler und schließlich auch bei ihm selbst festsetzen und auf Jahre bestehen bleiben. Vor allem das „vor die Tür setzen“ brandmarkt einen Schüler natürlich, da sichtbar und wahrnehmbar für alle.
Uta: Hast du die Erfahrung gemacht, dass Nils nicht mit Menschen außerhalb der Familie kooperiert?
Christopher: Zum Teil, ja. Auch beim Umgang mit seinen Großeltern oder wie beschrieben in der Schule. Dies erfahren wir dann nur über die Lehrkraft oder Nils, wenn uns berichtet wird, dass er z.B. in den Nebenraum musste, um dort zu frühstücken.
Das klingt interessant mit dem „Motzton“. Ähnliches passiert hier leider auch. Und wie schon beschrieben, vorwiegend unter Stress. Ich bin auf die Fortsetzung gespannt!
Ich bin schon gespannt wie es weiter geht, das Problem kenne ich. Ich bin leider auch oft zu motzig und beobachte, dass sich meine Kinder den Ton abschauen. Das macht mich sehr unglücklich, theoretisch will ich natürlich ganz anders mit den Kindern reden, aber gerade in Stress-Situationen fällt man zurück in solche Muster.
Mein Urteil also schon jetzt: Ja, das Protokoll des Online-Coaching ist interessant. Ob es hilft, kann ich später sagen?.
Liebe Grüße,
Mia
Vielen Dank an Euch beide diesen Austausch zu veröffentlichen. Auch ich finde uns in dieser Thematik wieder, genauso, auch in der Rollenverteilung zwischen meinem Mann und mir. Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht. Das Interessante hier ist für mich die schrittweise Entwicklung des Problems und der Lösung. Eine sehr gute Idee, das Online Coaching.
Viel Kraft Dir, Anna, und Deiner Familie, und vielen Dank Dir Uta, für die hilfreiche Idee.
Eure Charlotte aus Brüssel