Was für Menschenkinder „artgerecht“ ist.
Als ich in der vergangenen Nacht auf den ersten Anruf des Kronprinzen aus Kanada wartete, erlaubte ich mir, den Brief zu lesen, den unsere Nachbarin ihm zum Abschied geschrieben hat.
Wir können uns noch sehr gut daran erinnern, als du vor fünfzehn Jahren mit deinem Bobby Car vor unsere Haustür gerollt kamst. Du hast uns mit den Worten begrüßt: Jetzt sind wir so oft umgezogen, jetzt bleiben wir hoffentlich hier!
Das ist dann auch so gekommen und wir konnten daran teilhaben, wie ihr alle größer wurdet und dann auch irgendwann „flügge“.
Ich saß im Lesesessel, sah im Schein der Laterne draußen die schwarzen Umrisse des Apfelbaums, den wir zum Einzug von den Nachbarn geschenkt bekommen hatten und der in diesem Jahr so viele Äpfel getragen hat wie noch nie. Ein Gefühl großer Dankbarkeit durchströmte mich, dankbar dafür, dass unsere Kinder so aufwachsen durften.
Wir wohnen Wand an Wand mit unseren Nachbarn. Die Hecke, die wir anfangs zwischen unseren Gärten gepflanzt hatten, sah nicht ein, wozu die Trennung gut sein sollte und ging ein. Also haben wir nur zwei Büsche gesetzt. Dazwischen konnten die Kinder beliebig zwischen den Grundstücken hin und her rennen.
Unsere Nachbarn haben auch eine Tochter und einen Sohn. Alle Kinder zusammen reihen sich auf wie die Orgelpfeifen. Zwischen den jeweils nächsten ist höchstens ein Abstand von eineinhalb Jahren. „Tür auf, raus zum Spielen!“ Diese Möglichkeit hat uns Eltern das Leben unglaublich erleichtert. Unsere Kinder mussten sich nicht umständlich verabreden, wir mussten sie nicht zu den Freunden chauffieren und wieder abholen. Es war fast immer jemand da, mit dem sie spielen konnten.
Auch in vielem anderen haben wir uns ergänzt: Die Nachbarn stellten eine Schaukel auf, wir eine Sandkiste. Sie schufen Platz für ein Trampolin, wir für eine Turnstange. Sie bekamen einen Hund, wir zwei Katzen. Zum Tannenbaumschlagen fahren wir immer gemeinsam. Als die Kinder klein waren, liefen sie am Heiligen Abend spät noch rüber, um bei den jeweils anderen die Geschenke zu bestaunen. Und wenn ich sie frage, wie sie ihren Geburtstag feiern möchten, höre ich bis heute unisono: „Bei Kaffee und Kuchen mit den Nachbarn, mehr will ich eigentlich gar nicht.“
Warum halte ich euch unser Bullerbü-Glück vor die Nase? Weil ich auch das andere Extrem kenne und weiß, welch einen riesigen Unterschied das für Eltern macht. Bevor wir hierher zogen, lebten wir jeweils ein oder zwei Jahren in anderen Städten, hatten schließlich zwei kleine Kinder und wegen der Herumzieherei konnten wir an unseren jeweiligen Wohnorten kaum Fuß fassen, weil es berufsbedingt dann schon wieder weiter ging. Eine typische Situation, wenn man im Job relativ am Anfang steht. Dummerweise fällt das gerne mit der Zeit zusammen, in der man kleine Kinder hat. So war ich viel allein mit unseren beiden Kleinen, besonders an unserer vorletzten Station, einem Vorort von Paris. Die Nachbarn dort waren entweder zu alt, um vor die Tür zu kommen, oder alle waren den Tag über in Büros verschwunden und holten ihre Kinder – wie in Frankreich sehr verbreitet – erst aus der Kita, als unsere schon fast wieder ins Bett mussten. Weil wir eine schwächelnde Stromheizung hatten, hatte ich hauptsächlich Kontakt zu den Elektrikern dort. Und bald verfügte ich über ein Französisch, mit dem ich auf einer Fachmesse für Installateure hätte brillieren können. Die meiste Zeit aber war ich allein mit zwei kleinen Kindern und das war sehr anstrengend.
„Dass eine Mutter ihr Baby allein betreut, ist bei einer kooperativ aufziehenden Art wie der unsrigen nicht sinnvoll. Mütter, die den ganzen Tag mit ihren Babys allein sind – ohne andere Verwandte oder Freunde -, befinden sich in einer Ausnahmesituation, auch wenn dies bei uns die Regel ist. Wir merken das daran, dass den meisten Müttern sehr bald die ‚Decke‘ auf den Kopf fällt. Das gilt auch, wenn Papa und Mama zusammen sind. Die Kleinfamilie ist ebenfalls kein artgerechtes Setting, sie schafft eine Belastungssituation, je nach Temperament des Babys auch eine Überlastungssituation.“
Das Zitat stammt aus dem Buch „artgerecht. Das andere Baby-Buch“ von Nicola Schmidt (Seite 226). Ich hatte den Kösel-Verlag um ein Rezensionsexemplar gebeten, weil mich der Titel so angesprochen hat. „artgerecht“ bezogen nicht auf Legehennen oder Mastschweine, sondern mal auf Menschenbabys. Die Idee dahinter ist, dass wir es häufig schwer haben mit unseren Kindern, nicht weil das Baby ein Tyrann ist oder die Eltern Versager sind, sondern weil Familien in Industrienationen in der Mehrheit unter Bedingungen leben, die sowohl für die Kinder als auch für Mama und Papa schlichtweg nicht artgerecht sind. Diesen Gedanken finde ich sehr spannend.
Unsere Vorfahren lebten in Gruppen zusammen, arbeiteten zusammen, zogen zusammen ihre Kinder groß. Keine Mutter war stundenlang allein mit ihrem Baby, abgetrennt von allem gesellschaftlichen Leben und nur darauf hinlebend, dass sich die PEKiP-Gruppe wieder trifft. Genauso wenig war ein Baby halbe Tage lang von seiner Mutter getrennt und wurde versorgt von Menschen, die keinerlei Bezug zur Familie haben. Das Steinzeit-Baby und die Steinzeit-Mama hatten beides: Nähe und gesellschaftlichen Anschluss, Arbeit und Spaß. Das alles ermöglichte das Leben in einem Clan.
Nun will Nicola Schmidt uns weder zurück in die Steinzeit beamen noch den Alltag von Naturvölkern verklären. In ihrem lesenswerten Buch zeigt sie vielmehr auf, wie wir über die Jahrtausende geprägt wurden und was wir bei all unserer Anpassungsfähigkeit nicht ignorieren können, ohne unglücklich zu werden. Sie behandelt die Themen Schwangerschaft, Geburt, Ernährung, Schlafen, das Baby tragen, Windelfreiheit und die Frage der Betreuung – alles unter dem Aspekt, was evolutionär in uns angelegt ist und was wir auf moderne Weise in ein Leben einer Familie im 21. Jahrhundert wieder aufleben lassen könnten. Vieles davon ist nicht neu. Klar ist Stillen artgerechter als Flaschennahrung, zusammen im Familienbett schlafen artgerechter als den Säugling einsam im Kinderzimmer abzulegen, das Baby im Tuch tragen artgerechter als der Transport in der Babyschale … Das Buch enthält viel Wissenswertes rund um diese „alten“ Themen und ermuntert einen immer wieder zu gucken, welcher „artgerecht“-Tipp zu einem passen könnte und welcher nicht. Dazu viele wissenschaftliche Erkenntnisse, die ich gerne gekannt hätte, bevor ich Kinder bekam.
Zurück zu unseren Nachbarn. Mit ihnen haben wir eine Situation schaffen können, die ein bisschen war und ist wie das artgerechte Leben in dem, was Nicola Schmidt einen „Clan“ nennt. Wir konnten uns unkompliziert bei der Betreuung der Kinder unterstützen, wenn einer einkaufen musste, konnte er oder sie die Kinder bei den anderen lassen und dafür Besorgungen für die andere Familie mit erledigen, die Kinder wuchsen in einer altersgemischten Gruppe auf, gelegentlich reisten Großeltern an, bei Bedarf konnte man ein Erwachsenengespräch führen, wir haben zum Teil gemeinsam gearbeitet (Auffahrt vom Unkraut befreit) und zusammen gefeiert … das alles, ohne dass wir ständig aufeinander hockten. Dazu sind wir als Familien auch zu unterschiedlich. Wahrscheinlich liegt unter anderem darin das Geheimnis dieser guten Nachbarschaft.
Vielleicht denkt ihr jetzt, dass nicht jeder das Glück hat, solche Nachbarn zu finden. Das ist wahr. Als ich damals mit einer Maklerin auf Haussuche war, glaubte sie, unser jetziges Haus käme für uns gar nicht in Frage. Vielleicht war es die Steinzeit-Mama in mir, die darauf bestand, es zu besichtigen. Als wir die Familie im Nebenhaus kennenlernten, war sofort klar: Das ist es!
Immer fröhlich darauf achten, dass wir wieder artgerechter leben.
Eure Uta
PS1: Der Kronprinz ist gut in Kanada gelandet.
PS2: Herzlichen Dank an den Kösel-Verlag für das Rezensionsexemplar!
So bin ich selbst aufgewachsen und ich vermisse es für meine Kinder so sehr! Wir haben unser Haus und Garten, liebe Nachbarn aber kaum Kinder in der Nähe. Verabredungen müssen langfristig geplant werden, mein Job, jeweils ein Nachmittagstermin eines Kindes, die Jobs und Termine der anderen Mamas und Kinder, spontan ist eigentlich nicht möglich. Ändern lässt sich wohl nichts mehr dran, nochmal ein neues Haus kaufen geht nicht. Ironischerweise hätten wir damals auch das Haus neben der jetzt besten Freundin von K1 angeschaut, die damals noch nicht dort gewohnt haben. Aber da hätte so vieles anderes nicht gepasst, dass ich dort wohl weniger glücklich wäre…
Liebe Uta,
ich lese deinen Blog gerne. Allerdings sehr selten, da er im Feedreader nur gekürzt erscheint. Ich würde mich sehr freuen, wenn du die Einstellungen ändern würdest.
Danke!
Liebe Biki, danke für deinen Hinweis! Ich mache mich mal schlau, wie das geht. Viele Grüße, Uta
Es ist so ,wie du schreibst, und ich weiß, wovon ich schreibe! M.
Liebe Uta,
Deine Worte berühren mich sehr, denn genau in dieser Situation befinde ich mich nicht. Ich warte händeringend auf ein geeignetes Haus, damit meine Kinder und auch ich nicht abgeschnitten von der Welt sind.
Hoffnungsvolle Grüße sendet
Stefanie
Erst gestern war in unserer Tageszeitung ein Artikel, dass die Menschen sich mehr Kontakt zum Nachbarn wünschen. Wir haben auch das Glück vor 6 Jahren ein Haus in einer kleinen Siedlung gefunden zu haben. Mittlerweile verjüngt sich die Siedlung und es rennen manchmal 5-6 Kinder durch den Garten oder sind unterwegs auf dem Spielplatz. Zumindest die Kleine findet immer jemand zum Spielen und das finde ich wunderbar. Jeder passt auf und auch die älteren Leute stören sich nicht am Kinderlärm. Dieses Jahr hat das Ehepaar von gegenüber goldene Hochzeit gefeiert und die ganze Nachbarschaft zur Gartenparty eingeladen. Herrlich wie jung und alt sich vertragen können. Richtig zusammengewachsen sind wir Jüngeren mit den Älteren aber auch erst durch das Hochwasser 2013. Da hat jeder jedem geholfen und das ist mit den meisten auch heute noch so.
Liebe Grüße und ich freue mich auf jeden neuen Beitrag.
Denise
Liebe Uta,
meine ersten Lebensjahre bin ich in einer Siedlung mit Mehrfamilienhäusern aufgewachsen, das war eine glückliche Zeit. Immer Kinder überall, viele Spielkameraden und viele gemeinsame Feste. Organisierte Spiel- oder Krabbelgruppen überflüssig.
Die letzten Jahre bin ich auch viel mit den Herzbuben gefahren, die Kita war gut 10 km entfernt und die Kita-Freunde entsprechend verteilt. Verabredungen und Treffen waren immer lange geplant.
Jetzt endlich sind beide Herzbuben in der Schule um die Ecke, Spielkameraden sind zu Fuß oder mit dem Rad für sie erreichbar. Sie laufen einfach los, um zu schauen, ob jemand Zeit hat. Ich rieche förmlich die Freude der Herzbuben an der neu gewonnenen Freiheit und Unabhängigkeit. Und auch für mich ist es dadurch viel entspannter, auch wenn dann spontan das Haus oder der Garten voll und laut ist.
Mittlerweile entlasten eine andere Mutter und ich uns, indem wir uns gegenseitig die Jungs und das Abholen von der Schule abnehmen.
Und manchmal frage ich mich, warum es so schwer ist, sich besser zu vernetzen.
Mittlerweile haben wir einen Hund und lernen so noch nebenbei die restliche Nachbarschaft im Park kennen.
Liebe Grüße,
Frieda
Wir wohnen in einem Reihenhaus mit einem grossen Innenhof, in dem es nur so wimmelt von Kindern. Wir haben wirklich coole Nachbarn mit ähnlichen Lebenskonzepten (autolos, naturliebend und teilzeitarbeitende Mütter und Väter). Ich bin froh, dass meine Kinder so aufwachsen, und wünschte, ich hätte so aufwachsen können, es hätte einen grossen Unterschied gemacht für meine Kindheit.
Es gibt immer jemanden, der spontan Kinder hüten kann oder mit einem Mittagstisch aushilft. Das ist toll vor allem für die, die keine Grosseltern in der Nähe haben.
Nur manchmal würde ich meine Kinder gern ein bisschen mehr sehen. 🙂 Aber solange sie glücklich sind…
Ha! Den Begriff „artgerechte Freilandhaltung“ habe ich bei Aufzucht meiner und der vorübergehenden Aufzucht der jeweiligen Bereitschaftspflegekinder immer mal verwendet und wurde darob belächelt.
Ich bleibe dabei: besser is das. Allerdings sehe ich auch, dass dieses mein Wunschmodell leider vielfach nicht möglich ist.
Merkwürdig: Wo doch „Individualisierung“ sehr hoch gehalten wird, gibt es dennoch eine große Sehnsucht nach Gemeinschaft. Und das muss sich gar nicht unbedingt widersprechen. Ich glaube, die industrialisierte Menschheit ist einfach ein bisschen verwirrt.
Liebe Grüße vom
Freilaufenden, artgerecht gehaltenen
LandEi