Warum Kinder Führung brauchen.

In unserem Vorort gibt es einen kleinen Schmuckladen, in dem die Inhaberin unter Aufsicht ihres Hundes die Geschäfte treibt. Eine Türglocke braucht die Frau nicht, weil der Hund bei jedem Kunden schier ausrastet. Wütendes Gebell, die Zähne gefletscht, die Stimme so rau, als steckte Bruce Willis in dem kleinen Tier. Als Kunde kann man sich nur hinter der ersten Vitrine verschanzen, bis Frauchen mit diversen Leckerli und gutem Zureden erreicht, dass Bruce sich knurrend in seinen Korb zurückzieht.
Meine Nachbarin, selbst Halterin eines sehr friedvollen Labradors, hat mir erklärt, dem Juweliers-Hund fehle die Führung. Sein Frauchen habe es versäumt zu klären, dass sie der Chef sei im Laden und im Leben von Bruce. Deshalb habe der kleine Kerl die Lücke gefüllt und gibt jetzt die Bestie. Ein furchtbarer Stress vor allem für das Tier.
Ich habe mal geschrieben, bei Kindern reiche eine Durchsetzungsquote von 80 Prozent und wir seien hier ja nicht in einer Hundeschule. Darauf erreichten mich Zuschriften, die mich darüber aufklärten, dass auch in den meisten Hundeschulen die Zeiten des Drills vorbei seien und man zunehmend auf qualifizierte Führung setze. Seither scheint es mir gar nicht mehr so abwegig, Parallelen zu ziehen.
Als der Kronprinz klein war, machte er abends immer ein riesiges Theater, weil er noch eine Geschichte vorgelesen, noch ein Lied vorgesungen, noch einen Arm gekratzt haben wollte. Danach waren wir so erschöpft, dass wir gleich daneben einschliefen oder uns nur noch ins eigene Bett schleppen konnten. Kein „Tatort“ mehr, keine Zeit als Paar.

Gegenüber vom Schmuckladen.
Gegenüber vom Schmuckladen.

In seinem neuen Buch „Leitwölfe sein“** schreibt Jesper Juul von einer Dreijährigen, die den gesamten Abend mit ihren Eltern verbringen möchte. In diesem Fall müsse man freundlich, aber bestimmt sagen: „Das will ich nicht. Ich will nicht mit dir spielen, ich will nicht mit dir lesen. Ich will meine Ruhe haben und mit deinem Vater zusammen sein. Geh in dein Zimmer.“
Und jetzt kommt das Beste. O-Ton Juul:

„Wenn ich so etwas sage, fragen die Eltern immer: ‚Aber fühlt das arme Kind sich dann nicht abgelehnt?‘ Die Antwort lautet: ‚Ja, hoffentlich! Darum geht es ja.’“

Ich musste so lachen über diese Stelle.
Die halbe Kindheit meiner Kinder hatte ich Angst davor, sie könnten sich abgelehnt fühlen. Deshalb habe ich mir manches „Nein“  verkniffen. Das ging zu meinen Lasten und auch zu Lasten der Thronfolger.
Erkenntnisse:

  • Wenn Eltern nicht die Führung übernehmen, verunsichert das die Kinder und sie geraten in die gleiche Position wie der Kläffer aus dem Schmuckladen. Hier hat Frau Krähe sehr schön darüber geschrieben, warum es Sinn macht, für seine Kinder ein Alpha-Tier zu sein.
  • Damit ist nicht gemeint, Kinder herumzukommandieren oder zu dressieren, sondern ihnen nicht Entscheidungen aufzubürden, die zu groß für sie sind: Wie viel Zeit wir als Paar haben, wohin wir in Urlaub fahren, ob Oma kommen soll oder nicht ….
  • Mit meinem „Nein“ habe ich auch eine Vorbildfunktion. So lernen Kinder, dass auch sie „nein“ sagen dürfen, wenn andere drohen, ihre persönlichen Grenzen zu verletzen. Juuls schlagendes Beispiel dafür: „Soll man seinen Mitmenschen das geben, wonach sie verlangen, weil sie sonst traurig werden? Soll die Vierzehnjährige mit ihrem Freund schlafen, weil er sonst frustriert ist?“ (Jesper Juul: Die kompetente Familie. München 2009, Seite 42)
  • Immer auf den Unterschied achten! Nicht dem Kind vermitteln, dass es als Person nervig ist, sondern dass man selber jetzt dringend Ruhe braucht. Das ist die Sache mit den Ich-Botschaften. „Ich will, dass du mich jetzt in Ruhe lässt….!“

Wenn wir den Satz nehmen „Ich will, dass du mich jetzt in Ruhe lässt….!“, so ist es nicht mit den Worten getan. Entscheidend ist die innere Haltung von Entschiedenheit und Liebe. Wenn ich als Mutter oder Vater unsicher bin, ob ich vielleicht am Selbstvertrauen des Kindes kratze, ob ich mir das herausnehmen darf, ob ich vielleicht zu egoistisch bin …., wird es nicht funktionieren. Kinder spüren unsere Substanz.
Oh, ich würde so gerne die Zeit zurückdrehen – nur für einen Abend* – und einmal ausprobieren, wie souverän ich den kleinen Kronprinzen heute ins Bett bringen könnte.
Immer fröhlich ein liebevolles Alpha-Tier sein.
Eure Uta
* Na, wahrscheinlich wären ein paar Abende nötig, bis die Botschaft durchdringt. Gebt bitte nicht auf!
** „Leitwölfe sein“, das neue Buch von Jesper Juul ist eher ein „politisches Manifest“ (Seite 114), denn ein Erziehungsratgeber. Seine anderen Bücher habe ich wegen der vielen tollen Beispiele und dem Bezug zum Alltag mit deutlich mehr Gewinn gelesen. Hier habe ich die Werke besprochen, die mir besonders gut von ihm gefallen.
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  • Das ewige schlechte Gewissen.
    Aber ja, vor allem im täglichen Gerangel mit der Vorpubertät stelle ich immer wieder fest, dass es den Sohn sehr erleichtert und entspannt, wenn ich klare Ansagen mache…… ungefähr 30 Minuten nach dem Geschrei, dem Geheule und dem Türenknallen. Und nach den 30 Minuten vor der zugeknallten Tür, in denen ich mich vor schlechtem Gewissen zermartere und demonstrativ gelassen und souverän tue. 😉
    Alphatier sein ist oft gleichbedeutend mit Arschkarte ziehen und das auch aushalten können müssen.
    LG, Katja

  • Danke, danke, danke.
    Es wird viel zu wenig darüber geschrieben, dass ein Nein oft das bessere Ja ist. Zu oft vergessen wir das Ja für uns und zeigen den Kindern nicht, dass wir auch Menschen mit Bedürfnisse sind und die auch ein Leben und Ehepartner nach den Kindern haben.

  • Liebe Uta,
    sehr schöner Beitrag! Ich befürchte, dass ich der Lütten bei anderen oft vormache, man müsse es bloß jedem recht machen … Das ist leider noch immer mein Problem …
    Ihr gegenüber haben der Papa und ich das ja jetzt schon etwas geübt 🙂 Und ja, ich sage: Jetzt möchte ich nicht, jetzt möchte ich auch Feierabend … Jawohl 🙂
    Trotzdem fühle ich mich manchmal echt doof. Neulich meinte die Lütte zu sich selbst: Dann geh ich halt, wenn meine Mama mich nicht mehr haben will…
    Das fand ich schon sehr schwer. Genau das soll sie ja niemals denken oder fühlen … Aber ich glaube, nachdem ich ihr das Gegenteil erklärt hatte, war es „ok“ 🙂
    Danke auf jeden Fall und liebe Grüße,
    Dorthe

  • Liebe Uta,
    das Thema beschäftigt uns gleichermassen wie es scheint. Danke für den Link! Es tut mir leid zu beobachten, dass gerade sehr engagierte Eltern oft ihre eigenen Bedürfnisse neben denen ihres Kindes nur noch schlecht wahrnehmen. Und sich tatsächlich davor fürchten, sich kurzfristig (auch) unbeliebt zu machen.
    Als Lehrerin von Teenagern und Hundeführerin eines hochsensiblen, relativ anspruchsvollen Hundes (man verzeihe mir die Aufzählung in einem Satz), bin ich diesbezüglich zum Glück gut gewappnet. Substanz. Und Liebe. Und viel Fröhlichkeit. Damit mache ich täglich gute Erfahrungen.
    liebe Grüsse, Martina

  • Ich möchte nicht, dass mein Sohn sich von mir abgelehnt fühlt, ich möchte einen Weg finden, der für alle Beteiligten in Ordnung ist.
    Ich möchte hinsehen und herausfinden, warum er mich gerade jetzt so sehr braucht, obwohl ich dringend meine Ruhe brauche.
    Ich möchte für mich sorgen und „Nein“ sagen, aber möglichst nicht auf Kosten anderer.
    Lieben Gruß und ein schönes Wochenende
    Antje

  • Bei Hunden ist die Körpersprache von uns Menschen noch viel wichtiger, als das, was wir ihnen mit Worten sagen. Und ich glaube, unsere Kinder können auch unsere Körpersprache besser lesen, als es uns manchmal lieb ist. Mit liebevoller Konsequenz, die zudem authentisch ist, hat es bei uns mit den Kindern und nun einem recht sturen Hund bislang recht gut geklappt 🙂

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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