Prinzessin und die Wahrheit 

 27/04/2022

Wie mir ein Café-Besuch mit meiner Tochter zu einer Erkenntnis verhalf

Neulich saß ich mit Prinzessin (21) in einem Café. Wir kauten auf einem Franzbrötchen herum und wussten nicht, worüber wir reden sollten. Da fiel mir ein, dass ich gelesen hatte, man solle sich gelegentlich die Wahrheit sagen. Ich nahm noch einen Bissen von dem Teig-Kringel und fasste Mut. Ob sie mir nicht mal sagen wolle, was ihr an mir nicht gefalle. „Ich meine, bezogen auf unsere Beziehung. Jetzt nicht die Nase, die ewig gestreiften Shirts oder meine Art, den Schaum vom Cappuccino abzutragen.“ 

Sofort kam Leben in mein Gegenüber. 

Hatte ich gehofft, sie müsste über diese Frage länger nachdenken? Oder sie würde tief in ihrem Inneren gar nicht fündig?

Ja, es gebe etwas, das ihr nicht gefalle. Prinzessin setzte sich aufrecht. Als wir vor ein paar Tagen darüber gesprochen hätten, dass sie vielleicht ihr Studium abbrechen wolle, hätte sie gesagt: „Ich frage mich manchmal, ob ich genug Durchhaltewillen habe.“ Darauf habe ich, ihre Mama, einen Ermutigungsschwall über sie geschüttet. Das stimme doch gar nicht mit dem fehlenden Durchhaltewillen. Sie solle sich nur erinnern, wie sie das Abitur gemeistert habe oder wie sie auf der Segelreise im nächtlichen Sturm vor Skagen das Steuer hielt. Ich konnte gar nicht mit Beispiel an mich halten und suchte fieberhaft nach Beweisen, um ihr Gefühl zu widerlegen. 

Nicht ernst genommen

„Um ihr Gefühl zu widerlegen“ - genau das ist der Punkt. Dass ich ihr den Eindruck vermittelt habe, ihre Gefühle seien falsch. Prinzessin sagte, sie hätte sich gewünscht, ich hätte nicht diesen Coaching-Übereifer gezeigt, ich hätte aufgehört, jeden Anflug von Mutlosigkeit und Negativität reflexartig ins Positive zu wenden. Sie hätte es gebraucht, dass ich einfach nur zuhöre und den mangelnden Durchhaltewillen im Raum stehen lasse. In meinem Ermutigungsschwall habe sie sich nicht erst genommen gefühlt. 

Tja, da spiele ich den Retter in der Not. Und eigentlich ist es eine Anmaßung. Wie immer, wenn man ungefragt die Probleme anderer Menschen lösen will. 

Noch deutlicher wurde mir mein überschießender Problemlösungsdrang, als ich das Buch „Ich muss mich nicht für alles verantwortlich fühlen“ von Gary B. und Joy Saunders Lundberg gelesen habe. Besonders das Kapitel über erwachsene Kinder fand ich sehr hilfreich. 

Als Eltern können wir nur uns und unseren Umgang mit erwachsenen Kindern verändern (nicht das Kind ; meine Anmerkung). Hier setzt die Wunderwirkung des Bestätigens an. Wenn ein erwachsenes Kind mit einem Problem zu Ihnen kommt, sollten Sie nicht sofort denken, dass es eine Lösung erwartet. Oft äußert es nur seinen Frust und möchte über das Problem reden. ("Ich muss mich nicht für alles verantwortlich fühlen", Seite 158)

Gary und Joy Lundberg

Familien-Therapeuten

Der Vorschlag ist denkbar einfach: Wirklich zuhören und höchstens kurze Bemerkungen machen wie „Ich verstehe, was du meinst“, „Ich kann nachvollziehen, wie du dich fühlst.“ oder „Es muss schwer für dich sein, in dieser Übergangsphase zu stecken.“

Das ist so simpel, dass passionierte Problem-Löser es als unter ihrer Würde empfinden können. Und gleichzeitig viel wirksamer, als jemandem seine Ratschläge aufzudrängen.

In dem Buch der Lundbergs, einem US-amerikanischen Familientherapeuten und seiner Frau, hat mir besonders die Idee für Eltern gefallen, deren erwachsene Kinder ihnen Vorwürfe bezogen auf ihre Kindheit machen: „Ihr habt Matthias mir immer vorgezogen.“ - „Ihr habt nie meine Ballett-Aufführungen besucht und meine Persönlichkeit nicht wirklich gesehen.“ - „Ihr habt mir große Leistungen nie wirklich zugetraut.“

Jede Mama und jeder Papa hat den Reflex, sich sofort zu verteidigen und zu rechtfertigen. „Wir lieben dich genauso wie Matthias. Und wem haben wir die ganzen Geigenstunden bezahlt? Dir!“ „Du weißt doch, dass ich wegen meiner Nachtschichten bei den Aufführungen nicht dabei sein konnte.“ - „Ich hatte Sorge, dich zu überfordern, wenn wir dich aufs Gymnasium geschickt hätten.“ … 

Sich nicht zu verteidigen, sondern die Gefühle des erwachsenen Kindes anzuerkennen, bringt Frieden.

Wie schön wäre es, wenn Eltern nicht in die Defensive gehen, sondern zuhören und zum Beispiel sagen würden. „Ich kann verstehen, dass das nicht immer leicht für dich war.“ -„Jetzt begreife ich erst, wie es dir damals ging.“ - „Es muss nervig für dich gewesen sein, immer mit den Geschwistern verglichen zu werden.“

Und was passiert dann? Die Klienten von Gary und Joy Lundberg berichten, dass das erwachsene Kind nach solchen Signalen des Verständnisses plötzlich aus dem mentalen Schützengraben klettert. „Sicher habt ihr das getan, was ihr damals für mein Bestes hieltet.“ - „Ich verstehe jetzt, dass ihr mich schützen wolltet.“ -„Ich habe unterschätzt, wie anstrengend die Nachtschichten für dich waren, Papa.“ 

Ich liebe Ideen, die aus einem Gegeneinander ein Miteinander machen. 

Das Buch der Lundbergs ist fast zwanzig Jahre alt, aber in seiner Bedeutung zeitlos. Sie beschreiben nicht nur, wie das Bestätigen grundsätzlich geht, sondern zeigen in zusätzlichen Kapiteln die Anwendung bei Kindern, Teenagern, den erwachsenen Kindern, dem Partner, den Eltern oder Schwiegerelten und in Scheidungs- und Patchworkfamilien. Gebraucht ist es hier für wenig Geld erhältlich.

Ehrliche Rückmeldung

Danke, Prinzessin, dass du dich auf unser Experiment ‚Wir sagen uns die Wahrheit‘ eingelassen hast. Und danke für deine ehrliche Rückmeldung!

Immer fröhlich zuhören und bestätigen und mir schreiben, was euch mit dem Bestätigen Wundersames passt,

Eure Uta 

… meiner Leserin und Freundin Anke herzlichen Dank für den Buch-Tipp!

Das Titelbild ist von Chevanon Photograph und das Beitragsbild von Andrea Piacquadio. Beide von Pexels. Vielen Dank!

Wegen der Buch-Verlinkung gilt dieser Beitrag als unbezahlte Werbung. 

  • Liebe Uta,
    manchmal ertappe ich mich auch dabei, gleich Lösungen anzubieten und ein Brainstorming zu veranstalten….das überdenke ich auch mal wieder ;o)
    Das Buch hab ich sogar zuhause, damals gekauft für die kleinen Kinder und mehr noch, für die Verwandtschaft, die (wie ich dachte) ziemliche Erwartungen an mich (wahrscheinlich ich jedoch noch viel mehr an mich selbst!!!) hatte, als 13 Jahre nach meiner Mutter auch noch mein jüngerer Bruder starb.
    Aber das mit der Verantwortung ist schwierig und jeder muss seinen Weg finden, sonst verliert man sich selbst.
    Wie schön, dass du hier mal wieder daran erinnerst. Ich weiß, dass ich damals viele erhellende Gedanken beim Lesen hatte. Nun werd ich es mal wieder herauskramen und mit dem Wissen und den Problemchen von Heute durchlesen.
    Bei der Betreuung meines dementen Vaters könnte es durchaus hilfreich sein.
    Vielen Dank für deine Postings, die einen immer zum Überdenken anregen, und ganz liebe Grüße aus dem sonnigen Nordhessen,
    Christina

    • Oh, liebe Christina, wie schön, wieder von dir zu lesen! Ist ja toll, dass du das Buch sogar zu Hause hast. Die Autoren schreiben auch, dass Zuhören und Bestätigen natürlich nicht immer passt. Es kann auch angemessen sein, zum Beispiel am nächsten Tag noch einmal anzurufen und zu sagen: „Ich habe darüber geschlafen und habe ein Idee. Darf ich sie dir schildern?“
      In ganz vielen Situationen aber, kann das einfache Bestätigen die eigene kleine Welt bewegen. Und das ganz ohne Mühe.
      Herzliche Grüße aus dem sonnigen Hamburg ins sonnige Nordhessen, Uta …PS: Ich bin gespannt, ob es dir hilft mit deinem Vater.

  • Krass…Da sieht man mal, dass man es als Eltern eigentlich immer nur falsch machen kann. Dein „Ermutigungsschwall“ ist doch das, was ich seit Deinem Blog versuche und nun ist das auch nicht richtig. Und Deine Tochter hat recht, wenn sie vom Gefühlewiderlegen spricht.
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    So, das war das Erste, was mir beim Lesen durch den Kopf ging und wie vor den Kopf gestoßen fühlte ich mich auch dabei.
    Aber (großes ABER!), ich glaube wir können immer wieder nur lernen und nachfragen und nachdenken und es neu versuchen und scheitern und von vorn beginnen und lieben was das Zeug hält. Und ab und zu einen Glückstreffer landen, uns darüber freuen und beim nächsten Mal in haargenau der gleichen Situation und mit haargenau der gleichen Reaktion hoffnungslos danebenliegen. So ist es wohl, wenn Menschen miteinander leben. Ich finds klasse, dass Deine Tochter den Mut hat, Dir das rückzumelden und dass Du die Stärke hast, das hinzunehmen, anzunehmen und sogar öffentlich dazu zu stehen. Besser Familie geht wohl nicht.
    Danke!
    Liebe Grüße
    Dana

    • Liebe Dana, danke, dass du so ehrlich von deiner ersten Reaktion geschrieben hast. Ich sehe mich übrigens weiterhin als große Ermutigerin. Das Zuhören und Bestätigen und Raum-lassen ist ja auch eine Spielart der Ermutigung, auf die ich mich wieder mehr besinnen möchte.
      Du schreibst „Und ab und zu einen Glückstreffer landen, uns darüber freuen und beim nächsten Mal in haargenau der gleichen Situation und mit haargenau der gleichen Reaktion hoffnungslos danebenliegen. So ist es wohl, wenn Menschen miteinander leben.“ Ja, so ist es wohl im Miteinander. Ich finde aber nicht, dass Eltern es nur falsch machen können. Das sind einfach die Feinheiten bei Menschen wie dir und mir und vielen anderen, die sich viele Gedanken über ihre Kinder machen. Danke fürs Schreiben und herzliche Grüße, Uta

      • Liebe Uta, nein, eigentlich finde ich das ja auch nicht aber manchmal kommt man sich (vielleicht sogar vor allem als Mutter?) ein bisschen so vor. Aber gut, unseren Kindern wird es später wahrscheinlich nicht anders gehen.
        Danke für diesen Blog und dass du weiter schreibst, ich lese hier wirklich gern mit.
        Liebe Grüße und ein schönes Wochenende!
        Dana

  • Oh, liebe Uta, das kenne ich so gut. Ich hätte bei meinen Kindern genauso reagiert. So groß sie auch schon sind – als Mama fühlt man sich soo schnell verantwortlich. Oder zuständig, sie zu ermutigen und zu bestärken. Und dann sagen sie dir: is ja klar, dass du als Mama das sagst!🤣 Öfter mal die Klappe halten, zuhören und nicht immer gleich mit Lösungen um die Ecke kommen … das nehme ich mit. Danke!

    PS: Du hast übrigens so spannend geschrieben, dass mir beinahe meine Nudeln verkocht wären …

  • Liebe Uta,
    ja, genau wie Du gehöre ich zu den Problemlösern und bin mit Ratschlägen sehr spendabel 😉 das Buch erinnert einen einfach mal wieder daran, dass „Klappe halten“, zuhören und ganz empathisch sagen „ja, da hast Du es jetzt ja echt wirklich schwer“ oft ausreicht. Und dann kann man wirklich auf wundersame Weise sehen, wie diejenigen „aus dem Schützengraben klettern“ und sich selbst aufbauen. Und dann kommt es von innen und das ist am Ende des Tages doch am heilsamsten.
    Danke für diesen schönen Artikel!
    Liebe Grüße von Anke

    • Liebe Anke, das hast du wunderbar ausgedrückt:“dann kann man wirklich auf wundersame Weise sehen, wie diejenigen „aus dem Schützengraben klettern“ und sich selbst aufbauen“. Es ist toll, wenn man das erlebt. Danke für deinen Beitrag! LG Uta

  • Liebe Uta, vielen Dank für die Denkanstöße. Mit meiner 15jährigen ist Kommunikation derzeit nicht immer leicht. Sag ich was, ist es falsch, sag ich nix, ebenso. Ich hab aber gemerkt, dass sie gesprächiger wird, wenn mir die Worte fehlen. Ich werd mal ausprobieren, was passiert, wenn ich statt nur „ja“ (weil mir grad nix besseres einfällt) einen der mitfühlenden Sätze sage. Ich bin da nämlich auch eher lösungsorientiert und mach Vorschläge. Was natürlich auch wieder falsch ist. 😉
    LG von TAC

    • Liebe TAC, beeindruckendes Phänomen, oder? Dass sie gesprächiger wird, wenn dir die Worte fehlen. Danke, dass du deine Erfahrung geschildert hast! LG Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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