Als Eltern gerecht sein? 

 09/04/2012

Warum Erbsenzählerei bei Kindern ein Mangel-Denken fördert

Vorgestern Nacht habe ich Dragee-Eier in kleine Tüten gefüllt, um sie am Ostermorgen im Garten zu verstecken. Um gerecht zu sein, fing ich an, die kleinen Eier abzuzählen. Dann hielt ich inne: „Spinnst Du?“, sagte ich zu mir selber. „Möchtest du Kinder haben, die nicht damit zurecht kommen, dass der Bruder oder die Schwester ein Dragee-Ei mehr im Beutel hat als sie selber?“
Nein.
Natürlich liegen zu Weihnachten ungefähr gleich viele Geschenke für beide Kinder unterm Weihnachtsbaum und in der Eisdiele dürfen beide zwei Kugeln mit Streuseln. Natürlich verwöhnen wir nicht das eine Kind und halten das andere knapp.
Aber wir nehmen das Thema „Gerechtigkeit“ nicht zu wichtig.
Was ist denn gerecht?
Wenn alle immer das Gleiche bekommen?
Aber die Kinder sind doch auch unterschiedlich.
Meine Freundin hat drei Kinder. Wenn eins davon anfängt zu maulen „Das ist aber ungerecht“, sagt sie ihnen: „Gerechtigkeit ist sowieso nur ein moralisches Konstrukt.“
Ich weiß nicht, ob auch der Jüngste das versteht, aber zumindest wissen die Drei, dass sie diesen Knopf bei Mama nicht zu drücken brauchen.
Wenn Eltern überängstlich darauf bedacht sind, gerecht zu sein, setzen sie die Kinder auf die gleiche Spur. Dann infizieren sie die Kinder mit dem Gefühl, man könnte zu kurz kommen.
Solche Eltern geben sich unglaublich viel Mühe und erreichen genau das Gegenteil von dem, wofür sie sich so angestrengt haben.
Aus dem gut gemeinten Wunsch, niemanden zu benachteiligen, verbreitet sich so ein Gefühl permanenten Mangels. Die Kinder bekommen den Eindruck, dass alles knapp ist, wenn mit so viel Anstrengung um gleiche Verteilung gerungen wird.
Kennt ihr das von Kindergeburtstagen? Es sind immer kleine Gäste dabei, die Angst haben, sie kämen zu kurz: beim Aufschneiden des Kuchens, bei der Vergabe der Rollen im Spiel, der Verteilung der Preise …
Wenn wir Kinder mit dem Gerechtigkeitsvirus infizieren, entwickeln sie die Einstellung, andere seien ihnen etwas schuldig: die Eltern, die Lehrer, der Staat, das Leben.
Als Kronprinz in der dritten Klasse war, ging mein Mann zum Elternabend. Die erste mehrtägige  Klassenreise stand bevor. Die Lehrerin wollte die Regel vereinbaren, dass niemand seinem Kind eine Karte oder einen Brief in das Landschulheim schreiben dürfe. Denn wenn 15 Kinder Post bekämen und 10 bekämen keine Post, dann sei das ungerecht. Die meisten Eltern nickten.
Mein Mann meldete sich zu Wort und sagte, dem könne er nicht zustimmen. Diese Regel sei grenzsozialistisch. Und auch die Diktatur der überbesorgten Mütter werde ihn nicht davon abhalten, seinem Sohn einen Brief zu schreiben, wenn ihm danach sei.

(danach war Stille: Schockstarre der Gerechtigkeitsfanatiker)
 
 
Bitte versteht mich nicht falsch: Wenn wir eine Gruppe von Kindern beschenken wollen, darf natürlich kein Kind leer ausgehen.
Aber verbeißt euch nicht bei jeder Gelegenheit in das Thema „Gerechtigkeit“.
Mein kleiner Leitfaden:
  • Schenkt aus vollem Herzen, schenkt spontan. Gerade kleine Kinder freuen sich über Kleinigkeiten: eine Muschel, ein Stein, eine schöne Feder …
  • Geschenke müssen nicht teuer sein, aber schenkt häufig und persönlich. Leben ist Fülle, kein Aufrechnen, Abmessen, Wiegen. Je früher Kinder diese Fülle erleben, umso besser.
  • Wenn ich selber mal leer ausgehe oder enttäuscht bin über ein Geschenk, meckere ich nicht rum. Ein anderes Mal werde ich dann umso reicher beschenkt werden.
  • Stellt die Freude in den Vordergrund, nicht das „moralische Konstrukt“ Gerechtigkeit. Wenn ihr merkt, ihr verstrickt euch in rechthaberische Diskussionen über Gerechtigkeit, haltet inne und wickelt das nächste kleine Geschenk ein.
Ich freue mich, wenn ihr mir eure Meinung schreibt.
Immer fröhlich sich verschenken
Uta
  • … ich mache wieder einmal ein „JA!“ hinter jeden deiner sätze!

    den satz „gerechtigkeit ist ein moralisches kosntrukt“ habe ich mir gleich mal für unser frühstück geklaut – er hat nicht nur bei der jüngsten für unverständnis gesorgt. aber zumindest für schweigen. ist doch auch schon mal was.

    mit fröhlichen grüßen,
    saskia

  • Dein Post ist super, denn bisher hätte ich wahrscheinlich auch die Eier abgezählt (also im übetragenen Sinn). Dabei hast du völlig recht mit dem, was du sagst. Das werde ich auf alle Fälle zukünftig beachten.

    Schöne Grüße
    Jutta

  • Liebe Uta,

    diesen Post hätte ich definitiv früher lesen müssen so vor ca. 15 Jahren.
    Ich war bei meinen beiden Jungs (heute schon Anfang zwanzig)sehr auf Gerechtigkeit bedacht und wollte bloss alles richtig machen und bloss keinen von den Beiden benachteiligen. Was ist aus ihnen geworden?
    Sie stehen beide mitten im Leben im Job und Studium……doch bis heute merke ich, dass der Jüngere von beiden immer noch meint, der Bruder würde bevorzugt. Der Erfolg des anderen wird beäugt und er ist versucht immer mitzuziehen. Irgendwie ein ständiger Konkurrenzkampf…..
    Leider bin ich versucht auch heutzutage alles „gerecht“ zu handhaben und achte peinlich darauf, wenn ich den Einen mit Freundin einlade, kurze Zeit später den anderen mit Freundin einzuladen…..irgendwie verrückt.
    Mir fehlt wohl die Erfahrung, da ich selber als Einzelkind aufgewachsen bin. Was ich anderen Eltern raten kann….hört auf Uta und macht das Nicht!!!

    Beste Grüße
    von Conni

  • Danke dafür. Habe tatsächlich letztens über ein Trostgeschenk nachgedacht, weil meine knapp 4jährige es schwer verkraftet, wenn andere Geschenke bekommen und sie nicht. Also lass ich das.
    Wie fördere ich nun das Mitfreuen? Das werde ich mal mit ihr üben…

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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