Muss ich meinem Kind Selbstwertgefühl geben? 

 28/01/2022

Warum Loben wenig hilft und es reicht, kleine Menschen in den Alltag der Erwachsenen einzubeziehen

„Wenn ich mehr Selbstwertgefühl hätte, könnte ich mehr erreichen.“ oder „Das liegt nur an meinem mangelnden Selbstwertgefühl, dass ich die Stelle, den Mann, die Beförderung, die Anerkennung der Freunde, die erforderliche Punktzahl in der Prüfung … nicht bekommen habe.“

Wer hätte das nicht schon einmal gedacht? Oder bei wem ist dieses Gefühl des Selbstwertmangels nicht ein mentales Grundrauschen?

Und wenn man in seinem Umfeld nachfragt, wer sich tief in seinem Inneren „nicht gut genug“ oder „nicht liebenswert“ fühlt, käme man wohl kaum hinterher mit dem Zählen. Selbst die, die zum Bersten selbstbewusst auftreten, versichern dann: „Das wirkt vielleicht so, aber tief im Inneren …“

Eltern als Lob-Spende-Automaten

Weil wir uns diese Geschichte von den fatalen Auswirkungen fehlenden Selbstwertgefühls beharrlich selbst erzählen, sind wir fest entschlossen, dass es unseren Kindern mal anders gehen soll. Deshalb mühen wir uns ab, sie mit Selbstwertgefühl zu boostern.

„Das hast du toll gemacht!“, jubeln wir auf dem Spielplatz. Dabei ist das Kind nur von einem Balken gehüpft. „Großartig! Du hast dir selbst die Schuhe angezogen!“ rufen Mama und Papa und stehen klatschend im Flur. Wir Eltern haben uns in Lob-Spende-Automaten verwandelt. 

Ich höre mich selbst, wie ich in dem Fall gesagt hätte: "Du machst das großartig!" Foto von Alexandr Podvalny von Pexels

Nun habe ich in dem Buch „Kindern mehr zutrauen“ der US-amerikanischen Wissenschaftsjournalistin Michaeleen Doucleff gelesen, dass das Selbstwertgefühl eine kulturelle Kreation westlicher Industrienationen sei. „Wahrscheinlich ist die westliche Kultur der einzige Ort“, schreibt Doucleff, „an dem die Vorstellung von der ‚Selbstschätzung‘ existiert - und ganz bestimmt die einzige Kultur, die von Eltern verlangt, Letztere bei ihren Kindern zu etablieren und zu pflegen.“ (Seite 55)

In anderen Völkern scheint es dieses Konzept gar nicht zu geben. Der spirituelle Lehrer Eckhart Tolle erzählte einmal in einem Vortrag, dass der Dalai Lama über das Selbstwertgefühl befragt wurde und sich der Übersetzer eine Viertelstunde damit abgemüht hätte, dem geistigen Oberhaupt der Tibeter eine Ahnung davon zu geben, was um Himmels willen mit diesem Begriff gemeint sein könnte. 

Keine Frage zu ihrem eigenen Wert

Während sich - so Doucleff - die Idee der fatalen Auswirkungen mangelnden Selbstwertgefühls in den sechziger Jahren in der amerikanischen Populärkultur durchsetzte und sich mit aller Macht auch in Europa breit machte, scheinen anderswo auf der Welt Menschen gar keine Frage zu ihrem Wert zu haben. Und auch gar keine Frage zum Wert ihrer Kinder - egal, was sie tun oder nicht tun.

Auch bei uns gab es viel grünen Klee, über den ich meine Kinder gelobt habe. Auch mir saß die Angst im Nacken, sie könnten sich „da draußen“ in der Kita, in der Schule, im Leben nicht behaupten, wenn ich vergesse, die gemalte Sonne mit den Balkenstrahlen oder die getöpferte Tasse mit dem wulstigen Henkel groß zu feiern. 

Als Michaeleen Doucleff, nicht nur Buch-Autorin, sondern auch Mutter einer vierjährigen Tochter, in einem Buch von Psychologinnen las, dass es so gut wie keine Belege über den Zusammenhang von fleißig lobenden Eltern und gelungenem Leben gibt, war sie sehr erleichtert:

„Zum ersten Mal seit Rosys Geburt hatte ich das Gefühl, nicht jede einzelne ihrer Handlungen loben zu müssen. Dass ihr Selbstwertgefühl nicht das zerbrechliche Fabergé-Ei war, das ich jeden Augenblick kaputt machen konnte.“  ("Kindern mehr zutrauen", Seite 57)

- Michaeleen Doucleff, foto: © Simone Anne

Was folgere ich daraus?

  • Wir sollten nicht zu doll loben. Vielleicht sollten wir uns mit Bewertungen aller Art zurückhalten und einfach miteinander sein.
  • Wahrscheinlich genießen wir das Zusammensein mit unseren Kind mehr, wenn wir uns locker machen und aufhören, alles zu bewerten und mit positiver Aufmerksamkeit zu verstärken. 
  • Denn ein solches Verhalten ist auch eine Form von Kontrolle und Lenkung und damit anstrengend für alle Seiten.
  • Wenn Kinder merken, dass wir es genießen, einfach mit ihnen zusammen zu sein, ist das sowieso das Größte für sie. 
  • Doucleffs wichtigste Botschaft ist, Kindern von klein auf (quasi sobald sie laufen können) echte Aufgaben zu geben und sie erleben zu lassen, ein wichtiger Teil der Familie zu sein, jemand, der von Anfang an etwas beiträgt.
  • Wenn ein Kleinkind erfährt, dass es eine Banane schneiden, ein Werkzeug holen oder den Hund bürsten kann, und dass es einen echten Beitrag für uns leistet, entwickelt es gar nicht die Frage nach seinem Wert.
  • Wie ich immer schreibe: sich beim Kind für eine Hilfe zu bedanken, ist auf jeden Fall das bessere Loben.

Welche Erfahrungen Michaeleen Doucleff und ihre kleine Tochter Rosy bei ihren Reisen um die Welt und welche Erziehungsgeheimnisse sie in indigenen Kulturen erfahren haben, schreibe ich in einem meiner nächsten Beiträge. Denn „Kindern mehr Zutrauen“ ist das erste Erziehungsbuch seit langem, das mich begeistert. 

Immer fröhlich aufhören, sich über das Selbstwertgefühl des Kindes zu sorgen,

Eure Uta 

Das Titelbild ist von Alexander Dammer von Pexels. Vielen Dank!

Bei diesem Beitrag handelt es sich um unbezahlte Buchwerbung.

Ich danke dem Kösel-Verlag für das Rezensionsexemplar.

  • … diesen Beitrag hätte ich gerne vor 22 Jahren gelesen. Leider kann man die Zeit nicht zurückdrehen, aber noch heute ertappe ich mich dabei, dass ich z. B. handwerkliche feinmotorische Arbeiten lieber selber mache. 🙈 Ich werde mich am Riemen reißen und gelobe Besserung (auch wenn es mir sehr sehr schwer fällt, Sohnemann hält sich nie mit Aufbauanleitungen auf und ich bin da eher sehr gewissenhaft). Danke für den Beitrag.

    • Liebe Riete, für Kursänderungen ist es nie zu spät. Toll, dass du dich auf den Weg machst, und danke für deinen Kommentar! LG Uta

  • Aus meiner eigenen Kindheit kann ich das nur kräftig in dickem Rot unterstreichen!

    Ich würde mich heute als sehr selbstkritisch, perfektionistisch und leicht im Selbstwertgefühl zu verunsichern beschreiben, auch wenn ich mittlerweile daran gearbeitet habe.

    Meine Mutter hat soweit ich denken kann viel, viel gelobt und dabei auch völlig unangebracht die hässlichsten Kunstwerke und gruseligsten Backversuche (sie meinte es wohl tatsächlich so). Als ich 12 oder so war, hat mich das richtig wütend gemacht, wenn ich mit etwas selbst nicht zufrieden war und es von ihr noch gelobt wurde.

    In Kombination mit viel „Pass auf“, „Vorsicht“, „Fall nicht hin oder runter“, „die Welt ist ungerecht zu dem armen Kind“ aus meiner heutigen Sicht als Mutter nicht ganz ideal. Wobei ich ihr keine Vorwürfe machen möchte, es ist eben auch ihr Lebensgefühl.

    Der Artikel jedenfalls spricht mich daher sehr an, vor allem das „genießen, einfach mit ihnen zusammen zu sein“ 💛

    Rini

    • Danke, Rini! Den Aspekt „Als ich 12 oder so war, hat mich das richtig wütend gemacht, wenn ich mit etwas selbst nicht zufrieden war und es von ihr noch gelobt wurde.“ empfinde ich als wichtige Ergänzung. So kann unangemessenes Lob dazu führen, das wahre Potenzial des Kindes nicht zu sehen. LG Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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