Kleine Jungs und die Gewalt 

 07/03/2014

Ich hatte ein paar Anfragen, von denen ich gerne die eine oder andere aufgreife. Zum Beispiel die von Anne.

Das Thema Streiten interessiert mich auch. Wir stoßen da grad an unsere Grenzen. Ich habe meinen Jungs jahrelang mühsam beigebracht, dass wir uns mit Worten wehren und uns nicht weh tun. Und jetzt ist der Große in der 1. Klasse und ich stelle fest, dass er damit nicht weiter kommt. Plötzlich brauchen wir neue Regeln und Methoden, um zu streiten, sich zu wehren, sich durchzusetzen, ernst genommen zu werden. Zurückhauen gehört definitiv dazu und zur Lehrerin/Erzieherin gehen definitiv nicht mehr. Eine richtige Idee habe ich da grad nicht. Du ja vielleicht? 
LG
Anne


„… dass wir uns mit Worten wehren“?

Liebe Anne, ich glaube sofort, dass es mühsam war, deinen Jungs beizubringen, sich mit Worten zu wehren. Denn das ist ganz gegen ihre Natur. Von klein auf sortieren sich Jungs in Rangordnungen. Jedes Spiel – egal ob Brettspiel oder Dosenkicken – hat für sie nur den Zweck, ihren Platz in der Hierarchie der Jungen zu finden. Und wenn diese kleinen Männer in eine neue soziale Gruppe kommen, was ja der Fall ist, wenn sie eingeschult werden, hat das Kämpfen und Konkurrieren Hochkonjunktur.
Ich schreibe das nicht, weil ich alten Rollenklischees verhaftet bin, sondern stütze mich auf Studien aus dem Buch der Neurobiologin Louann Brizendine. Hier heißt es:

„Jungen raufen und verprügeln sich mit dem größten Vergnügen; sie streiten sich um Spielzeug und versuchen, sich gegenseitig unterzukriegen. Solche Spiele treiben sie sechsmal häufiger als Mädchen.“ (Louann Brizendine: Das männliche Gehirn. Hamburg 2010, S. 40)

„Bei Jungen in der ersten Schulklasse reagiert das Gehirn entzückt, wenn sie Stärke und Aggressionen zeigen können. Noch besser ist, wenn körperliche Kraft mit Beleidigungen einhergeht. … Solche Spiele verschaffen ihrem Gehirn eine starke Wohlfühlbelohnung in Form eines Dopaminschubs.“ (ebd., S. 41)

Wir Frauen machen gerne verächtliche Bemerkungen über die kleinen wilden Jungs anderer Eltern: „Der gibt hier wohl das Alpha-Männchen.“ Dabei wird meist verkannt, dass dieses Verhalten tatsächlich in ihrem Gehirn angelegt ist.

  • Jungen schadet es, wenn man ihnen das Kämpfen verbietet
  • sie brauchen dafür klare Regeln (z.B. Boxen und Rangeln ist erlaubt, aber kein Treten; keine Schläge unter die Gürtellinie; der Kampf hört auf, wenn der Gegner am Boden liegt …)
  • ideal ist es, wenn ältere Jungs oder erwachsene Männer ihnen diese Regeln beibringen
Liebe Anne,
du könntest mit deinen Jungs darüber sprechen, welche Form des Sich-Wehrens okay ist, und mal nachfragen, ob die Lehrerin Regeln dafür aufgestellt hat. Gut ist auch, wenn die Jungen einen Kampfsport lernen, denn da werden ihnen gesunde Grenzen für den Körpereinsatz vermittelt.
Immer fröhlich akzeptieren, dass man auf Schulhöfen keine kleinen Gandhis trifft,
Eure Uta
  • Liebe Uta,
    danke für deinen Post, den ich wirklich sehr interessant finde!

    Genau so, wie du es beschreibst, hatten wir das „Problem“ auch in der ersten Klasse unseres Sohnes- nur das die Rangeleien in fieses Mobbing ausarteten. Geprügelt von den Jungs und niedergemacht von der Lehrerin, hatten wir zum Halbjahresende ein Häuflein Elend hier sitzen. Besagte Lehrerin mag bis heute „ihre“ Jungs noch nicht, weil sie sich nicht anpassen lassen…
    Unser einziger Sohn hat unter drei Schwestern nicht wirklich jemanden zum rangeln, also geht er zum Wing Tsun- das ist ihm eigentlich zu „brutal“, aber er geht hin und nun nach zwei Jahren stellen sich erste Erfolge ein.

    Ich denke, dass es schwierig ist, heute noch „typisch“ zu sein. Und gerade die Jungs und Männer: wie typisch dürfen sie denn heute eigentlich noch sein?
    Gerade wenn sie erwachsen sind, „verlangen“ wir Frauen denn nicht sehr oft Sachen, die sie eigentlich garnicht leisten Können oder wollen- so etwas wie aktives zuhören, verstehen, was wir zwischen die gesprochenen Worten eigentlich sagen wollen, verantwortungsvolle Rundumsicht im Alltag… Und das waren auch mal kleine Jungen…
    Ich glaube, das es heutzutage generell ganz schön schwierig ist, seine Identität und sein „ich“ zu finden, egal ob Männlein oder Weiblein.
    Es tut mir leid, wenn das jetzt so viel wurde, aber das ist hier gerade auch ein großes Thema bei uns.

    Liebe Uta, bitte mach weiter so. Ich schätze deine Beiträge sehr und teile sie gerne mit meinen Freundinnen über Facebook…

    Liebe Grüße
    Antje

    • Liebe Antje, die Situation, die du aus der Schule beschreibst, ist typisch. Vielen Lehrerinnen fehlt das Verständnis für das Jungs-Sein. Ich meine damit nicht, dass sie ihnen alles durchgehen lassen sollen. Jungs brauchen klare Strukturen, aber auch jemanden, der mal ein Auge zudrücken kann und ihnen Raum gibt zum körperlichen Ausagieren. Und mit den Männern, das sehe ich genauso. Männlichkeit wird schnell als Machotum verunglimpft. Ich freue mich sehr, dass du meine Posts gelegentlich auf Facebook teilst. Herzlichen Dank und viele liebe Grüße Uta

  • Danke, für die Tipps. Ich bin da ganz Deiner Meinung, gerade auf dem Schulhof gibt es solche Szenen. Ich bin als Lesemama an der Grundschule und helfe auch in der Schulbücherrei. Die Lehrer verbieten aber oft solche kleinen Rangeleien.

    Ich persönlich habe nur das Problem, wenn sich mein 12 Jähriger (körperlich so gross wie ein 14 jähriger) mit seinem jüngeren Bruder, der 7 und ein Hänfling ist, balgt, muss ich gelegentlich einschreiten, weil es eventuell auch schief ausgehen kann. Aber auch der Jüngste von beiden bekommt eine Ermahnung, dass er seinen Bruder nicht so provozieren soll!

    Liebe Grüsse

  • Hallo! Zwei Situationen fielen mir ein:
    1. Ich wollte als junge Lehrerin die Schule verlassen und sah am Rand des Sportplatzes zwei Jungs aus der Zweiten Klasse sich prügeln. Schockiert ging ich dazwischen. Als ich sie getrennt hatte, schauten mich zwei verdutzte Gesichter fragend an. Hilflos fragte ich, was hier los sei. Die Antwort:“Wir machen nur Spaß!“ Ich habe das damals kaum glauben können, aber keiner hatte sich beschwert. Ich hab sie damals vom Schulgrundstück geschickt.:-)
    Fall 2: Mein eigener Sohn hatte in den ersten Wochen seinem Freund aus Spaß mit der Hand auf den Hintern gehauen. Wir wurden sofort einbestellt. Das fand ich maßlos überzogen. Leider hab ich es nicht geschafft bei seiner Klasslehrerin für mehr Verständnis oder Nachsehen zu werben. Ich denke die Wahrheit über Jungs muss erst noch in Pädagogische Berufe hineingetragen werden.
    Mir fällts manchmal schwer daneben zu stehen, wenn die Jungs untereinander gemein sind. Anfang des Jahres mit Beginn der ersten Klasse wars ganz schlimm. Inzwischen kommen weniger Sachen vor, meist sowas, wie „du darfst heute nicht mitlaufen“, etc. Nur, mit Einmischen bin ich auch nicht besser gefahren. Ich überlasse es jetzt ihm und versuche ab und an mal einen Tipp zu geben, nur mal ehrlich, die will er auch nicht wirklich! ;-))

    Liebe Güße Lolo

    • Ja, kommt das in der Lehrerausbildung denn gar nicht vor?! Das ist doch elementar. Ich denke, in den 70er Jahren ist es allen ausgetrieben worden, anlagebedingte Geschlechts-Unterschiede anzuerkennen. Herzliche Grüße Uta

  • Ich musste so lachen, als ich die Zitate gelesen habe – die Neurologin ist offenbar bei uns in der ersten Klasse dabei gewesen. 🙂 Da ist die Suche nach dem Alphamännchen sehr zentral. Die (Waldorf-)Schule hat ein großes Einzugsgebiet, kaum jemand kannte sich schon aus dem Kindergarten. Mindestens fünf der 11 Jungs waren in ihren früheren Gruppen der Leitwolf. Die Lehrerin, selbst Mädchenmama, hatte ganz schön zu tun, sich an das Chaos zu gewöhnen. Und einige Mamas sind extrem harmoniebedürftig und möchten jeden kleinen Konflikt ausdiskutiert wissen. Allgemeine Schulhofregel ist aber zum Glück: Wenn beide sich einig sind, dass es Spaß oder ein fairer Wettkampf ist, dann ist es das auch. Natürlich kommt es auch mal zu Auswüchsen, zu blutigen Lippen und blauen Flecken. Aber ich denke, man kann Grenzen auch nur lernen, wenn man auch mal bis zur Grenze gehen darf (und sie eben aufgezeigt oder zu spüren kriegt, wenn man sie übertritt).
    Trotzdem würde ich als Mutter nie sagen: „Na, dann hau ihn zurück, wenn er dich haut!“ Ich versuche schon zu vermitteln, dass Konflikte möglichst friedlich geregelt werden. Ich verbiete es aber auch nicht und beschränke mich auf einen vielsagenden Blick, wenn die Jacke vom Rangeln wieder vor Matsch starrt. Ich hoffe, dass meinen Jungs das den Freiraum gibt, den sie genetisch offenbar brauchen, ohne sie zu dem Gedanken zu erziehen, dass körperliche Gewalt okay ist.

    Viele Grüße,
    Lena

    • Danke für den Aspekt, dass man Grenzen nur lernt, wenn mal auch mal bis zur Grenze gehen darf! Ach, ihr bereichert das Ganze immer so durch eure Kommentare. Vielen Dank dafür und liebe Grüße Uta

  • Nur schlimm, dass offensichtlich kein einziger Aspekt „neuer“ neurologischer/psychologischer Erkenntnisse in der Grundschule eingekehrt ist. Und das bei z.T. jungen Lehrerinnen! Jedes kleinste „männliche“ Verhalten harmlosester Art (z.B. Gerangel) wird als moralisch schlecht verurteilt, mit schlechter Verhaltensnote bewertet, während Verhalten, das klischeemäßig eher Mädchen zugeschrieben wird wie Petzen und Lästern einfach hingenommen wird ohne Sanktion.
    Als tolle „Neuerung“ gibt es Streitschlichter (in der Überzahl Mädchen), die mit Reden Konflikte klären sollen. Überhaupt wird dort jeder Streit „geklärt“, indem darüber gesprochen wird. Wohin mit der ganzen Wut und den körperlichen Empfindungen bei und nach diesem ganzen Gerede, das seltenst tatsächlich etwas klärt?
    In Schulen, in denen Stillsitzen und Stillsein (u.a. auch Schweigen statt sich für andere einzusetzen) höchste Priorität besitzen, läuft etwas grundlegend verkehrt. Das kann dann auch nicht mit einer extra Stunde Sport behoben werden. Passenderweise gibt es auch pädagogisch höchst wirksame (?) Strafen: Pausenverbote. Toller Teufelskreis! Die Kinder rangeln und toben sich aus, werden verpetzt (bezeichnend; die Beteiligten würden vermutlich niemand anderem etwas darüber mitteilen wollen), müssen darüber reden und, weil „Körperlichkeit“ unerwünscht ist, müssen sie zur Strafe in der nächsten Pause drin bleiben und arbeiten. Die Unruhe und Wut verstärken sich und los geht das gleiche Spiel von Neuem…Wäre es nicht real, hielte ich das für einen falschen Film. Aber was tun? Soll ich als Mutter die Lehrer fortbilden, ihnen Literatur empfehlen, hoffen, dass sie selbst Söhne bekommen?
    Da ist mein Sohn längst fertig mit (und fertig von?) der Schule…
    Ehrlich gesagt fühle ich mich als Mutter völlig im Regen gelassen. Fordere ich zum friedlichen Verhalten auf, untergrabe ich wesentliche männliche Anteile. Erlaube ich leichtes Gerangel, sich Wehren, Spasskämpfe etc., forciere ich „schlechtes“ Benehmen und fordere Schulstrafen nahezu heraus. Fördere ich weiterhin soziales Verhalten, zu dem für mich auch Aufbegehren gegen Unrecht und für andere Eintreten gehören, erhält mein Sohn immer schlechtere Noten und Verhaltensnoten…

    • Besonders klasse finde ich deinen Satz „bezeichnend; die Beteiligten würden vermutlich niemand anderem etwas darüber mitteilen wollen“. Ich bin überzeugt, die wichtigste Schulreform, die wir brauchen, ist eine veränderte Lehrerausbildung in Richtung „besseres Verständnis vom Kind und seiner Entwicklung“, „Persönlichkeitsbildung des Lehrers“, „Unterrichtsmanagement“, „eine große Gruppe führen können“, „Konfliktlösung“, „Motivation“ … Danke für deinen Erfahrungsbericht und herzliche Grüße, Uta

  • Mein Sohn war immer ein kleiner Ghandi, er hatte frueher geradezu Aengste anderen Kindern zu nahe zu kommen, weil er nicht einschaetzen konnte, was dann passieren koennte. Nun ist er in der ersten Klasse, haelt sich nach wie vor aus jedem Streit heraus, aber rauft froehlich mit um den Ball im sportlichen Wettkampf. Deshalb finde ich es immer ganz schlimm, wenn die Lehrerin an der Pausenzeit kuerzt … Wir wohnen im Ausland und hier gibt es eine Essenspause und eine Pause draussen auf dem Sportplatz. Mein Appell an die Lehrer waere mehr Zeit fuer freien Sport draussen (unter Aufsicht, aber ohne festes Programm und Noten) und nicht als Gruppenstrafe fuer die ganze Klasse die Pause einkuerzen.

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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