Glückliche Familie Nr. 211: Das Ei im Unwetter 

 07/04/2014

Manchmal gerate ich in einen Zustand der Verbiesterung.
Verbiesterung geht so: Man entwickele die Vorstellung, Sohn oder Tochter sei zu (und jetzt beliebig einsetzen)

  • zu faul / fleißig
  • zu aufgedonnert / schlampig gekleidet
  • zu widerborstig / angepasst
  • zu schlecht / gut in der Schule
  • zu verwöhnt / vernachlässigt vom Vater
  • zu snobistisch / anspruchslos
  • zu eitel / achtlos, was das Äußere angeht
  • zu extrovertiert / verschlossen
  • zu frech / harmlos
  • zu gesund / ungesund ernährt
  • zu chaotisch / stromlinienförmig
Die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Für welche schlechte Eigenschaft ihr euch auch immer entscheidet, wichtig ist das „zu“. Zu eitel, zu widerborstig, zu gut in der Schule (Letzteres wird seltener von Eltern gewählt) …
Jetzt müsst ihr nur noch ein verkniffenes Gesicht aufsetzen (passiert automatisch, wenn ihr euch einseitig auf eine Eigenschaft festgelegt habt), dann ist die Verbiesterung fast fertig.
Aber erst, wenn ihr nicht zuhört, keine Fragen stellt und euch in eurer Vorstellungswelt verschließt, erreicht ihr die perfekte Verbiesterung.
Jetzt flutscht es richtig: jedes Ereignis, jede Äußerung wird im Schnellverfahren zur Bestätigung der gewählten Vorstellung genutzt. „Hab‘ ich doch gleich gesagt, gedacht, gewusst …“
Ebenso automatisch beginnt der Verstand, die gewählte und als schlecht bewertete Eigenschaft des Kindes dem Partner in die Schuhe zu schieben. Ihr und ich, wir sind ja seit Anbeginn der Zeitrechnung auf der Seite der Guten und haben da auch keine Frage zu. Aber er hat schon immer und das kommt auch aus seiner Familie, also aus meiner garantiert nicht …

Ja, fotografiert ihr mal Verbiesterung! Deshalb hier das Stilleben auf unserem Klavier. (Das Nelson-Mandela-Bild ist ein Werk des Kronprinzen, 16).

Ich hatte für meine Verbiesterung die Eigenschaft „snobistisch“ gewählt. Eines meiner Kinder wollte eine Regenjacke, die teuer war und gut aussah, aber für einen Regenguss etwa so geeignet war wie eine Seidenbluse für eine Schneeschuhwanderung.
Ich kaufte die Regenjacke nicht.
Das war in Ordnung. Und auch das Kind fügte sich in diese Entscheidung. Aber seit dieser Diskussion gab ich der Vorstellung Nahrung, mein Kind sei ein Snob.
Als wir mit der ganzen Familie am Wochenende im Auto saßen, referierte ich die Kaufhausszene und setzte hinzu: „Man muss ja nicht in jedem Unwetter aussehen wie aus dem Ei gepellt.“ Ich schaute trotzig in den Außenspiegel. Was ich da sah, ließ mich erschrecken, aber nicht aufhören.
„Ich sehe übrigens an seinen Augenfältchen, dass Papa grinst“, meinte das betroffene Kind hinten von der Rückbank. Da hatten wir es also wieder, der Soßenkönig fiel mir in den Rücken. Ich war komplett in der Verbiesterungsschleife und fand weitere Belege für meine Snobismus-Theorie: die Klagen über das Gästebett, das zu hart war, die Wünsche, welches unser nächstes Auto sein sollte, die Wahl des größeren Stück Kuchens und die Bitte, bei einem Wochenendseminar, das unser Kind demnächst alleine besucht, nicht mit einem fremden Kind das Zimmer teilen zu müssen.
Das klingt jetzt launig, aber die Stimmung in der Katzenklo-Familie war schon mal besser. Und wie es sich bei einem Glückliche-Familie-Blog gehört, gab es ein Happy-End: ich fand aus der Verbiesterung heraus (Mensch, der Nacken wird auch so steif dabei), gab dem vermeintlichen Snob zu verstehen, für welchen seiner Wünsche ich durchaus Verständnis hätte (nein, nicht die Regenjacke, sondern das Einzelzimmer beim Seminar) und versprach, mich um eine Lösung zu bemühen.
Und siehe da: wir hatten das beste Gespräch, das Kind bot von sich aus an, doch in das Doppelzimmer zu ziehen und meinte schließlich, es werde mit der Situation schon zurecht kommen.
Also weg mit der Verbiesterung und den Vorurteilen über das eigene Kind, Wünsche erst einmal hören und nicht sofort abwerten.
Bei welcher angeblichen Eigenschaft eures Kindes werdet ihr so richtig biestig?
Immer fröhlich bleiben
Eure Uta
Ps: Den Post-Titel habe ich natürlich gewählt, um euch schon ein wenig österlich zu stimmen.

  • Was für ein toller Post! Ich musste beim Lesen so lachen und habe mich gleichzeitig so was von ertappt gefühlt 🙂
    Besonders das „wir sind ja seit Anbeginn der Zeitrechnung auf der Seite der Guten“ kenne ich bestens. Als ich mich das letzte Mal in so einer „Verbiesterung“ befand ging es um „Respektlosigkeit“ und einer meiner Söhne (7) meinte ein paar Tage später zu mir: Mama, immer wenn Du einen Pferdeschwanz trägst, bist Du so streng!“ Mittlerweile war ich beim Friseur und die Haare sind ab… 😉

    Herzliche Grüße,
    Maike

  • Hach Uta,
    Du sprichst mir wie immer aus der Seele.
    Im Moment bin ich auch total verbiestert, obwohl auch ich das eigentlich gar nicht will. Bei uns ist es im Moment das „zu faul zu lernen/ in der Schule“!. Sohnemann hat mit der Grundschule komplett abgeschlossen, seit Ende Februar feststeht, dass er im Sommer auf die Realschule wechselt. Ich verlange ja noch nicht einmal „Höchstleistungen“, sondern „nur“, dass er den Schnitt vom Halbjahreszeugnis hält. Doch wenn das so weitergeht, seh ich da keine Chance.
    Und so stecke ich wie es so schön heißt in der Negativspirale, je mehr ich das Kind antreibe, desto mehr macht er zu. Sanktionen bewirken rein gar nichts und ich hab auch keine Lust mehr die Gewitterkuh zu spielen. Göga sitzt mir im Nacken, da müßte „man“ -> also ich, weil ja Erzieherin!!!!! – was tun können ….. Himmel hilf!!
    Naja, kommt Zeit – kommt Rat(h) – kommt Unterrath wie es bei uns so schön heißt!
    In diesem Sinne lese ich hier fleißig weiter und fühle mich hinterher immer wieder besser!
    Lieben Gruß Kerstin

  • Sobald ich meine eine Eigenschaft an ihm zu entdecken, die mich schon an seinem Vater zur Weißglut gebracht hat. Wenn ich mir dann aber – nach einer angemessen Zeit der Verbiesterung – dessen bewusst werde, dass das wahrscheinlich völlig altersgerecht opportunistische Verhaltsweisen für einen Neunjährigen sind (im Gegensatz zu einem 40jährigen), dann mildern sich die Falten zwischen den Augen wieder etwas. Rücksichtslosigkeit, Opportunismus, Egoismus, Unhöflichkeit und Oberflächlichkeit sind die größten Verbiesterungsauslöser bei mir, die mich dann zu stundenlangen Monologen über den Untergang des Abendlandes bei weiterer Ausbreitung veranlassen… während der Lieblingssohn natürlich schon nach 3 Minuten abgeschaltet hat. 😉

    Herzlich, Katja

  • Hallo Uta, hallo Anonym!!
    Ja, mit Göga ist mein Göttergatte gemeint – sorry, das ist so in mir drin!
    Er meint es ja nicht böse, aber ist halt der Ansicht, dass ich doch da „Handwerkszeug“ haben müßte ……
    Lieben Gruß Kerstin

  • …meine Spezial-Verbiesterungs-Auslöser waren: mit dem Auto zur Schule gefahren werden wollen („Papa findet auch, dass das Wetter zu schlecht ist“), Aufräumphobie (ich verlange ja nicht viel, aber ein bisschen Ordnung sollte doch..) – na ja, und die Vorstellung, dass zu einem richtigen Essen Fleisch gehört. Wichtig finde ich, sich dann auch wieder die guten Seiten des Nachwuchses vor Augen zu halten, die sie ja auch nicht alle nur von mir geerbt haben. 🙂

  • Liebe, liebe Uta,
    erst einmal danke für so viel Selbstironie, tut gut und lässt viele Muskeln im Gesicht arbeiten. 😉
    Eigentlich sind alle deine aufgeführten Punkte Ursache für meine Verbiesterung. Außer die positiven natürlich. 😉 Aber alles andere …!? Dabei liegt das Problem eigentlich an mir. Ich habe immer Angst, dass das Tochterkind sich in eine Richtung entwickelt, die mir einfach zuwider ist. Sie testet allerdings aus, provoziert und ist und bleibt ein Grenzgänger (die Grenzen nicht unbedingt übertreten, aber dehnen und nur einen Fuß drübersetzen …). Und ich denke dann, dass sie nun die „falschen“ Werte verinnerlicht. Ade du gute Erziehung, ade ihr Werte, ade du ganze verdammte Mühe. Und am nächsten Tag genau das Gegenteil. Tja, man/ich vergesse immer, dass sie ein eigenständiges Wesen ist und sich entwickelt und ausprobiert. Also ein dickes Fell muss her! 😉
    Liebe Grüße,
    alles wird gut,
    Claudia

    • Ja, dickes Fell und Leichtigkeit. Blöd ist nur, dass es manchmal leichter ist, es sich schwer zu machen, als es sich leicht zu machen. Danke für deinen Kommentar! Uta

  • Ja das kenne ich auch. Mittlerweile kennt das meine Familie auch und schaltet schon mal gleich auf Durchzug; was mich natürlich dann noch mehr in den Zustand der Verbiestung führt. Mein jüngerer Sohn hat dann mal gesagt „Ich liebe dein saures Lachen. Zuerst bis du sauer und dann lachst du.“ Na super 😉
    lg Monika

  • Ach super wieder mal – ich schreibe es ja eigentlich fast unter jeden Deiner Posts… aber so isses halt, gell?

    So. Und österlich gestimmt bin ich jetzt auch endlich, vielen Dank.

    Papagena

  • Überbegriff: „Kosumgeil“. Hat bei mir Oberüberverbiesterungspotenziel. Und jaaaa , das kommt nur, aber wirklich ausschließlich, vom Vater, der alles erlaubt und alles kauft und sich ansonsten ja nicht mit der wachsenden Anspruchshaltung der Söhne, die immer nur „wollen“ (Süßigkeiten, Fernsehen, Spielzeug, Entertainment) herumschlagen muss. Meine Ansprachen zum Untergang des Abendlandes, dem Wert der Vorfreude, dem Ausbilden von Frustrationstoleranz verhallen ungehört……und während ich noch vor mich hin schimpfe, basteln meine Kinder dann Spielzeug aus dem Recyclingmüll mit dem sie dann stundenlang friedlich und völlig konsumfrei spielen…….während ich noch lange in meiner Negativität gefangen bin.
    Kennt Ihr das bei Kindern, die gerade herzzerreißend brüllen und ganz gefangen genommen sind von Ihrem Gefühl und von einem zum anderen Moment aufhören können, wenn etwas anderes Ihren Sinn streift. Ein Verhalten, dass Ihnen -wie ich finde, fälschlicherweise- oft als Opportunismus ausgelegt wird und als Beleg dafür, dass das Gefühl vorher nur geschauspielert war. Diese kindliche Fähigkeit ein Gefühl, dass einen beherrscht, von jetzt auf gleich auch wieder loszulassen, die wünsche ich mir oft zurück.
    Herzliche Grüsse,
    Julia

    • Liebe Julia, was du darüber schreibst, wie Kinder von einem Gefühl ins andere wechseln können und dass es trotzdem (oder gerade deshalb) echt ist, finde ich total spannend. Es sind häufig wir Erwachsenen, die gelernt haben, Gefühle zu zu lassen, dabei ist es meistens kein Zulassen, sondern ein Sich-Hineinsteigern. Danke für den Kommentar! Uta

  • Herrlich, Uta, ich musste so grinsen.
    Ich bin ja nicht so biestig, aber meine Mutter war Meisterin (als ich Teenie war ). Ich kenn das zu gut.
    Biestig werd ich allerdings auch ab und an, natürlich aus sehr gutem Grund ; )
    Es treibt mich wirklich auf die Palme, wenn mich unsere Tochter (4 und absolutes Papa-Kind) wie Luft behandelt. Wenn es ihr danach ist und sie beleidigt ist kann sie das absolut eisern durchziehen. Unglaublich, der Gedanke daran weckt das Biest in mir… grrrrr
    Wenn man sie nach ihrem Lieblingstier fragt, antwortet sie übrigens: „ein böser Tiger … grrr“
    Schöne Grüße an Dich. Angela

  • Danke für die klaren Worte! Bei mir ist es übrigens: warum bist Du immer so verschwenderisch mit…. und einen König gibt es dazu natürlich auch, der sich als großzügig beschreibt!

  • Ach Uta, du hast wieder so herrlich geschrieben! Großartig!
    Die nicht-zweckentsprechende-überteuerte-aber-wenigstens-hippe-Kleidung-Phase hatten wir doch (fast) alle mal, oder? Ich jedenfalls. Und nein, ich habe das Objekt der Begierde erstmal nicht bekommen. Bis wir uns darauf einigten, dass meine Eltern den üblichen Preis zuschießen und ich den überteuerten Rest bezahle. So haben es meine Eltern dann auch generelll mit uns gehalten.
    Die Herzbuben sind noch nicht in dem Alter, in dem sie Anlass zur Verbiesterung geben, ich warte gespannt.
    Uta, wie schön: deine Verbiesterungsfalten sind als Lachfalten zu uns gekommen. Damit ist doch jedem gedient. 🙂
    Liebe Grüße,
    Frieda

    • Oh, wieder so ein schöner Frieda-Kommentar. Danke! Ja, diese Zuschieß-Strategie habe ich auch schon angewandt: Kronprinz musste einen Teil vom Preis der begehrten Snowboard-Jacke selber abstottern. Aber manchmal fehlt mir die Disziplin, das durchzuziehen. Herzlichst, Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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