Selbstbewusstsein aus eigener Kraft erschaffen 

 29/04/2014

Wie Eltern an die eigenen Kinder weiter geben können, was sie selbst nicht bekommen haben

Zu meinem Post über Selbstgefühl und Selbstwertgefühl schrieb Kinderjubel in einem Kommentar:

In vielen Fällen (…) muss unsere Generation erkennen, dass sie das, was sie bekommen hat, nicht an die eigenen Kindern weitergeben will.  (…). Es ist aber oft schwierig etwas zu geben, was man selber nicht bekommen hat …

„Kinderjubel“ spricht damit eine Frage an, die mich immer wieder beschäftigt: Wie schaffen es Menschen trotz schwierigster Umstände, ihr Leben in die Hand zu nehmen und zu entscheiden, dass sie größer sind als das, was ihnen – auch als Kind – widerfahren ist?

Denn diese Menschen gibt es ja, Menschen, die geben können, was sie als Kinder selber nicht bekommen haben.

Ich denke an Eva Mozes Kor. Zusammen mit ihrer Schwester Miriam gehörte sie in Auschwitz zu den Kindern, an denen Josef Mengele seine grausamen Zwillingsforschungen vornahm. Kann man sich größere Demütigungen vorstellen? Gibt es einen größeren Angriff auf das Selbstgefühl als im KZ als Kind wie ein Stück Vieh behandelt zu werden?

Eva Mozes Kor hat das KZ überlebt. Sie gründete später eine Organisation, die weltweit die „Mengele-Zwillinge“ aufspürte und half, ihre Erlebnisse aufzuarbeiten. Zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz traf sie sich mit einem der KZ-Ärzte von damals zu einer Geste der Vergebung. Opfer und Täter brachten ihre Kinder und Kindeskinder zu diesem Treffen mit, aus der Überzeugung, dass nur Vergebung verhindern kann, dass sich solche Ereignisse wiederholen. In ihrer Rede anlässlich eines Symposiums über Biowissenschaften und Menschenversuche 2001 in Berlin schildert sie dieses Treffen. Für mich ist das eines der bewegendsten Dokumente überhaupt.

Wie kam Eva Mozes Kor zu dieser Stärke? Sie war zehn Jahre alt, als sie nach Auschwitz deportiert wurde. Hatte sie bis dahin eine so liebevolle und das Selbstgefühl stärkende Kindheit, das sie über sich hinauswachsen konnte? Hat es ihr vielleicht Kraft gegeben, dass sie ihre Auschwitz-Erlebnisse als ihr Schicksal annehmen und daraus ihre persönliche Lebensaufgabe entwickeln konnte, also eine Organisation zur Aufarbeitung und Versöhnung gründete?

Eva Mozes Kor hat ihre Erlebnisse aufgearbeitet, aber sie ist nicht stecken geblieben in ihrer Trauer, sondern hat sie umgewandelt in Taten. Das bewundere ich sehr. Denn sie hat etwas gegeben, was sie selber nicht bekommen hat.

Wir verbringen gerade ein paar Tage Urlaub in Dänemark und dahin habe ich das Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ von Viktor E. Frankl mitgenommen. „Das ist ja eine heitere Urlaubslektüre“, werdet ihr sagen. Aber wenn man herausfinden möchte, ob man etwas weitergeben kann, was man selber nicht bekommen hat, helfen vielleicht die extremen Beispiele weiter.

An diesem Platz lässt sich auch schwere Kost verdauen. Dort liegt allerdings gerade nicht das Frankl-Buch, sondern Ortheils „Die große Liebe“.

Frankl also war schon ein bekannter Psychiater in Wien, als er wegen seiner jüdischen Abstammung in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Bis zur Befreiung Ende April 1945 verbrachte er zweieinhalb Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern. Anders als seine Frau, seine Eltern und sein Bruder, die alle in Lagern ermordet wurden, überlebte er knapp die Nazi-Greuel.

Was Frankl in dieser ganzen Zeit mehr oder weniger aufrecht hielt, war unter anderem die Vorstellung, wie er später in einem schönen, warmen Vortragssaal über seine Erlebnisse im KZ berichten würde und wie er
seinem weiteren Leben Sinn dadurch geben könnte, dass er dieses unvorstellbare Leid erleben musste und daraus Lehren ziehen würde. Er schöpfte Kraft dadurch, dass er seinem Leiden Sinn gab.

„Was hier not tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet!“ (Viktor E. Frankl: … trotzdem Ja zum Leben sagen. München 2013, 5. Auflage, S. 117)

Nach seiner Befreiung hat sich Frankl dieses Buch innerhalb von neun Tagen von der Seele geschrieben. Später entwickelte er eine Therapieform, die Logotherapie, die auch auf das  zurückzuführen ist, was er im Konzentrationslager erlebte. Denn sie stellt nicht die Trauer über Erlittenes in den Vordergrund einer Behandlung, sondern den „Logos“, den Sinn, den sich jemand für seine Leben erschließen kann.

Wieder zu Hause möchte ich mehr über die Logotherapie lesen. Ich werde davon berichten.

Und welche Lehre ziehe ich aus dem am Meer Gelesenen? Dass man einbringt, wer man ist und was man erlebt hat, es anderen zunutze macht und sich nicht damit rausredet, dass man von zu Hause nicht das Selbstbewusstsein mitbekommen habe, die Dinge zu tun, die man tun könnte.

Immer fröhlich bleiben.

Eure Uta

Ps: Wenn man beim Schreiben aufs Meer blicken kann, werden die Themen wohl einfach größer. Liebe Amalie, vielen Dank für den wunderbaren Ferienhaus-Tipp! Es ist der Hammer.

  • Ich glaube ja, dass nur aus großem erlittenen Mangel und Leid überhaupt erst die Motivation entsteht, in der Zukunft selbst etwas verändern zu wollen, es anders machen zu wollen. Hätte man seine Kindheit und Jugend als ideal und behütet erlebt, dann würde man sicherlich das eigene Tun sehr viel weniger hinterfragen, als wenn das Gegenteil der Fall war.

    Herzlich, Katja

  • Habt einen schönen Urlaub!
    Das Foto macht so richtig Lust auf Ferien am Meer.
    … freue mich schon auf mein neues Buch 😉
    Liebste Grüße, Isa

  • Spannendes Thema, Uta.
    Mit etwas Glück lernen wir ja nicht nur von unseren Eltern, sondern auch von Großeltern, Nachbarn, Lehrer, Partner, Freunden, usw. Auch andere können uns Vorbilder sein und alternative Verhaltensweisen aufzeigen. Natürlich prägen uns die Eltern, und oft erfordert es Zeit und bewusste Entscheidungen, sich anders zu verhalten und den eigenen Kindern etwas anderes mit auf den Weg zu geben.
    Ich stimme Dir zu, wir können uns nicht als Erwachsene dahinter verstecken, dass wir zuhause zu wenig Selbstbewusstsein o.ä. mitbekommen haben. Wir leben auch in einer reflektierteren Zeit als unsere Eltern.

  • Wie außergewöhnlich inspirierend und auch spannend – dein Blog ist der Wahnsinn! Das Thema Resilienz und Bindung und -genau!- vor allem wie man als Elternteil weitergeben will und kann was man gern gehabt hätte usw. finde ich auch sehr interessant. Vielen Dank für deine Gedanken hier. Immer wieder glaub ich ja du bist meine Nachbarin und weißt daher genau, was mich selbst gerade beschäftigt und schreibst dann darüber 😉
    Liebe Grüße, Karin

    • Oh, da gucke ich, kurz bevor ich Brötchen holen gehe, noch einmal rein, ob noch Kommentare gekommen sind, und dann so etwas Tolles. Vielen Dank und „nachbarschaftliche“ Grüße, Uta.

  • Liebe Uta,

    ich bewundere meinen Vater sehr, der durchaus einige traumatische Erlebnisse hatte.
    Er war ein toller Vater für mich, zwar einer, der Gefühle nicht verbalisieren konnte, aber uns nie im Zweilfel darüber gelassen hat, wie sie aussehen. Er hat „Familie“ mit uns gelebt, ohne es selbst bekommen zu haben. Vielleicht war das für ihn auch eine kleine Art Wiedergutmachung oder Therapie für sich selbst.
    Was er wirklich erlebt habt, weiß ich nur vom Hörensagen und ich bereue es sehr, ihn zu wenig gefragt zu haben. Ich bin mir sicher, ich hätte ihn dann noch besser verstehen können.
    Ich hoffe, ihr hattet einen schönen und erholsamen Urlaub,
    liebe Grüße,
    Frieda

    p.s.: Hast du eine Ahnung, wie oft ich deine Seite aufrufe, um nachzuschauen, ob es einen neuen Beitrag gibt? 😀

  • Liebe Uta,

    vielen Dank für diesen wunderbaren Beitrag und den interessanten Link.

    Ich war mal auf einem Vortrag über Frankl, das war sehr sehr augenöffnend. Mit Tränen und so.

    Am Schluss haben sie eines der letzten Interviews mit ihm gezeigt. Und die letzte Frage an ihn war: Und was ist der Sinn ihres Lebens?

    Und er sagte in etwa: Den anderen Menschen zu helfen, den Sinn ihres Lebens zu finden.

    Schöner Sinn.

    Alles Liebe
    das Fräulein

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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