Beim Italiener saß am Nebentisch eine Frau mit ihrem vierjährigen Sohn. Theo hatte vom Kellner Papier und Buntstifte bekommen, verlor aber bald die Lust am Malen und kletterte auf dem Schoß seiner Mutter herum. Er zog an dem Kragen ihrer Bluse und verdrehte die Kette.
„Hör bitte auf damit.“ Mutter konnte sich kaum noch mit der Freundin unterhalten, sprach rotgesichtig unter Theos Arm hindurch und gelangte nur unter großen Verrenkungen an Olivenöl und Brot. Theo verschärfte sein Programm, zog an ihrem Ohr, kniff sie in den Hals.
„Du schimpfst gar nicht.“ Der Junge ließ die Kette los und schaute seine Mutter groß an. „Ich mag Schimpfen nicht“, sagte die Frau, „wir wollen doch lieb zu einander sein. Aber es macht mich traurig, wenn du mir weh tust.“

Diese Frau meint es unheimlich gut. Sie will nicht grob sein, ihr Kind nicht einschränken in seinen Freiheiten, schenkt ihm körperliche Nähe und erträgt – vermeintlich für Theo -, was an Folter grenzt.

Und Theo will es wissen. Ist meine Mama ein selbstbewusster Mensch aus Fleisch und Blut oder ein Dummy für meine Experimente?
Ich glaube, dass die breite Psychologisierung unserer Gesellschaft seit dem Psychoboom der 70er Jahre uns einen leichten Knacks verpasst hat. Wir lehnen Autorität ab und halten Macht für eine gefährliche Sache. Wir schlagen und demütigen unsere Kinder nicht mehr. Gott sei dank! Aber irgendwie sind viele von uns (ich eingeschlossen) auf der anderen Seite vom Pferd gefallen. Wir glauben, alles mit erklären, verstehen, reden, sich über Gefühle austauschen … lösen zu können. Und wenn das dann nicht funktioniert, sind wir so verunsichert, dass unsere persönliche Autorität verloren geht. Leider spüren Kinder das sehr genau.
Eltern trauen sich nicht mehr zu sagen: „Ich will das nicht“ oder das Kind zu nehmen und ohne große Worte auf den Boden zu setzen.
Manche Eltern trauen sich nicht mehr, ungebremst sie selber zu sein.

Stattdessen setzt Theos Mutter die „Gefühls-Keule“ein. „Es macht mich traurig, wenn du mir weh tust.“
Als wäre Theo verantwortlich für die Gefühle seiner Mutter. Nicht Theo macht sie traurig. Sie fühlt sich schlecht, weil sie nicht eingetreten ist für ihre eigenen Grenzen. Das kann sie nicht dem Vierjährigen in die Schuhe schieben.
Wenn man das ständig so macht (gerne genommen wird auch „ich bin enttäuscht von dir“ oder umgekehrt „Es macht mich glücklich, dass du eine 1 in Mathe hast“), erzieht man Kinder dazu, sich verantwortlich zu fühlen für die Gefühle ihrer Eltern und anderer Menschen. Eine unglaubliche Bürde.
Ich weiß, das ist ein sehr schmaler Grat. Auch ich habe schon geschrieben, man solle authentisch sein und Ich-Botschaften senden. Aber authentisch wäre in Theos Fall zu sagen: Stufe 1: „Hör auf damit, ich will das nicht.“ Stufe 2: „Ihn zu nehmen und wieder auf seinen Stuhl zu setzen.“ Und nicht: „Ich bin traurig, wütend, enttäuscht …“.

Eine solche Reaktion ist gut für das Selbstgefühl des Kindes. In den Eltern hat es dann Vorbilder, wie man klar für seine Bedürfnisse eintritt, statt aus eigener Schwäche andere mit seinen Gefühlen zu erpressen.
Was lässt sich daraus folgern:
  • Entschieden einstehen für seine eigenen Grenzen. „Ich will das nicht!“
  • Die eigenen Gefühle nicht als Hebel in der Erziehung einsetzen.
  • Wenn ich ein verheultes Gesicht habe und die Kinder fragen „warum?“, erkläre ich natürlich, dass ich traurig bin, weil zum Beispiel ein guter Freund so schwer erkrankt ist, aber ich setze meine Gefühle nicht als Druckmittel gegenüber den Kindern ein.
Immer fröhlich „Ich will“-Sätze bilden und bloß nicht die Gefühls-Keule schwingen.

Eure Uta

  • Hallo Uta,
    ich mache mir das auch immer wieder bewusst, wie wichtig eine klar verständliche Ansage in der „Ich-Form“ ist. Gut, mit meinem Temperament und meiner lauten Stimme gehöre ich sowieso nicht zu den lieblichen Reh-Muttis – dazu reisst bei mir viel zu schnell die Hutschnur, höhö!

    Für mich ebenso wichtig (wie das ich will/möchte das nicht) ist übrigens das selbstbewusste Äussern von Wünschen, also anstatt zu maulen, dass „hier nie jemand mal mitmacht bei der ganzen Arbeit und ich IMMER ALLES alleine machen muss“…
    einfach mal konkret auf einen aus dem Rudel zugehen und sagen: „würdest du bitte xy erledigen?“
    Ohne weitere Erklärung und Gejammer.
    Und besonders stolz auf mich selbst bin ich, wenn ich anschließend nicht vergessen habe, meine Freude über die Mithilfe kund zu tun (das wird dann leider auch schnell mal vergessen).

    Herzliche Grüße,
    Papagena

    War das jetzt etwas wirr formuliert?

    • Was für ein toller Kommentar, liebe Papagena! Herrlich die „lieblichen Reh-Muttis“! Klasse auch der Satz „einfach mal konkret auf einen aus dem Rudel zugehen und sagen: ‚würdest du bitte xy erledigen?‘ Ohne weitere Erklärung und Gejammer.“
      Ganz herzliche Grüße, Uta

  • Das geht jetzt vielleicht ein bisschen am Thema vorbei, aber: Ich bin generell eher die Rehmutti (die dann halt irgendwann ausflippt), aber in unserem Leben ist auch vieles so, dass ich mir denke, das ist einfach mühsam für Kinder (Langstreckenflüge, lange Autofahrten und Abende in Restaurants). Mittlerweile (so auch gestern Abend, halbgeschäftlicher Termin mit einer Angestellten, Kinder mussten mit) lasse ich sie dann einfach ipad schauen, weil ich weiß, dass sie (Leo, 6 Jahre, Matteo 5 Jahre) nicht 1,5h ruhig sitzen und sich gut benehmen können. Ich muss gestehen, ich hab das Essen sehr genossen. Geschaut wir bei uns nur am Wochenende oder eben bei so speziellen Gelegenheiten.
    Aber generell weiß ich nicht, bin ich da zu nachgiebig (Kinder sollten sich auch im Restaurant eine Zeitlang benehmen können) oder ist unser täglich Leben einfach mittlerweile oft kinderfeindlich? Müssen wir uns nicht auch öfter klarmachen, dass wir den Kindern mit unserem Lebensstil manches abverlangen?
    Muss man nicht auch sagen, von so einem kleinen Kerl ist es auch zuviel verlangt, brav stillzusitzen, wenn die Mama stundenlang mit der Freundin ratscht (tratschen, klönen)?

  • Guter Text! Ich denke auch, es ist besser, wenn ein Kind mal an Grenzen stößt und merkt, dass es sich nicht alles erlauben kann. Es muss auch nicht immer alles erklärt werden, zumindest nicht in dem Moment, in dem es kriselt! Grundsatzgespräche: „Ich möchte, dass du das und das nicht tust, weil….“ kann man auch ein anderes Mal führen. Kinder, die zu sanft behandelt werden, die alles hinterfragen dürfen, werden es als Schulkinder und im späteren Leben oft schwerer haben. Zudem gibt eine feste, liebevolle aber konsequente Struktur ja auch Halt und Geborgenheit.
    Viele Grüße
    Gabi

  • Danke für deinen Artikel Uta. Ich muss mal darauf achten, wann und wie ich „es macht mich traurig…“ sage, denn manchmal mache ich das auch. Aber auch ein klares „ich möchte, dass…“ hören unsere Kinder von mir, denn ich finde es ganz wichtig, dass sie die Bedürfnisse anderer kennen und dann irgendwann auch respektieren lernen.
    lg Sternie

  • {"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}

    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

    >