Echte Feinfühligkeit fürs Kind 

 14/01/2020

Bindungsforscherin Fabienne Becker-Stoll über den Freiraum, den schon Babys brauchen.

Gestern war ich bei Professorin Fabienne Becker-Stoll, Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München.
Es ist nicht falsch zu sagen, dass sie aktuell die Bindungsforscherin in Deutschland ist. Sie hat bei Klaus und Karin Grossmann studiert, die als Pioniere der Bindungsforschung im deutschsprachigen Raum gelten und in einer berühmten Längsschnittstudie fast hundert Familien über zwei Jahrzehnte begleitet haben. Die Entwicklung der Kinder dieser Familien haben die Grossmanns von der Geburt bis zum Erwachsenenalter dokumentiert, um herauszufinden, wie sichere Bindung entsteht. Und Fabienne Becker-Stoll hat an dieser Studie mitgewirkt. Deshalb war es für mich gestern eine Ehre, sie zu treffen. Und ich bin sehr dankbar, dass sie sich zwei Stunden für mich Zeit genommen hat.
Ihre Einordnung der „Bedürfnisorientierten Erziehung“ war mir wichtig. Ich konnte sie fragen, wie sie den Ansatz der Schweizer Therapeutin und Buchautorin Rita Messmer einschätzt, ob es wissenschaftliche Erkenntnisse zu „gefühlsstarken“ Kindern gibt und auch das Beispiel mit dem kaputten Eis aus meinem Blog-Beitrag vom vergangenen Mai haben wir besprochen.
Ganz trunken von so vielen Erkenntnissen bin ich mittags wieder in den Zug nach Hamburg gestiegen. Allerdings nicht ohne vorher in meinem Lieblingscafé einen Milchkaffee zu genießen und zu denken, wie großartig es ist, dass ich diese Arbeit machen darf. Im nächsten Leben hätte ich gerne mindestens vier Kinder, um anwenden zu können, was ich heute alles weiß und noch nicht wusste, als Kronprinz (21) und Prinzessin (19) im Kleinkind-Alter waren.

Echte Feinfühligkeit

Von all den Themen, die wir besprochen haben, werde ich hier in nächster Zeit immer wieder etwas aufgreifen. Heute aber gibt es ein Beispiel, bei dem ich kaum abwarten kann, es mit euch zu teilen, weil es so elementar für das Verständnis echter Feinfühligkeit ist.
Fabienne Becker-Stoll hat mir von einer Situation erzählt, die Karin Grossmann in einem Video festgehalten hat:

Eine Mama sitzt mit ihrem ungefähr sieben Monate alten Baby in einem Raum auf dem Boden. Das Kind kann sitzen, aber noch nicht krabbeln und deshalb eine große Holzrassel, die in einiger Entfernung auf dem Boden liegt, nicht erreichen. Die Mutter strahlt eine große Ruhe aus. In einem Zustand liebevoller Präsens sitzt sie still neben dem Kind. Das einzige, was sie irgendwann tut, ist, die Holzrassel etwas näher zum Kind hin zu schieben. Und jetzt kommt das Entscheidende: Sie reicht ihrem Baby nicht das Spielzeug, sondern verringert lediglich den Abstand zwischen Kind und Rassel.
Mehr als eine Minute habe die Mama da gesessen, berichtet Fabienne Becker-Stoll, und habe es ausgehalten, dass das Baby mit Mühe immer mehr zur Rassel rutschte und sie mit größter Anstrengung endlich in seine kleinen Hände bekam.

„Als Mama hätte ich das nie im Leben geschafft. Aber Karin Grossmann hat mir das Video gezeigt und gesagt: ‚Das ist Feinfühligkeit!‘“ 

- Professorin Fabienne Becker-Stoll

Ist das nicht beeindruckend?! Jeder von uns würde doch denken, es sei liebevoller, dem Baby zu helfen und ihm das Spielzeug schnell zu reichen. Wie kann die Mama so hart sein und das Kleine sich in dieser Weise abmühen lassen? Warum kommt sie seinen Bedürfnissen nicht entgegen?
Aber ein Detail aus dem Ende der Szene müsst ihr noch wissen: das Kind hat regelrecht gejuchzt, als es die Rassel endlich in seinen Händchen hielt. Eine solche Herausforderung zu meistern, führt zu großer Ausschüttung von Glückshormonen im Gehirn.
Welch ein Beispiel, oder? Und welch ein starker Ausdruck von Liebe es sein kann, nichts zu tun!

Immer fröhlich die Kleinen dabei unterstützen, dass sie die Herausforderungen, die sie sich selber stellen, auch selber meistern können. Sie dabei zu begleiten, dass sie ihre eigenen Ziele erreichen können, stärkt die Bindung und das Selbstgefühl des Kindes.
Eure Uta 

PS: Von Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh und Julia Berkic ist 2018 in München das Buch „Bindung. Eine sichere Basis fürs Leben“ erschienen. Ich hatte auch hier schon Erkenntnisse daraus aufgegriffen. 

(Affiliate Link)

  • https://youtu.be/5Q2cL-WteZk
    Hier ein Video, in dem Baby Ruby versucht, ein Spielzeug zu erreichen. Auch sie wird dabei nicht gestört / unterbrochen von wohlmeinenden Eltern… Das passt wunderbar zum Thema.
    Ich sauge gerade alles, was Janet Lansbury und Magda Gerber lehr(t)en wie ein Schwamm in mich auf. In vier Wochen gebe ich meine erste Spielgruppe für 6-12 Monate alte Babys. Und da sind deren Erfahrungen und Tipps, gepaart mit deinen hilfreichen Ideen hier auf dem Blog, zur Vorbereitung meiner inneren Haltung einfach Gold wert.
    PS den letzten Beitrag von dir, liebe Uta, fand ich auch spannend, aber den Titel etwas irreführend 😉

  • Ich bin sehr froh und dankbar, dass ich genau diese Gelassenheit im Piklerkurs lernen durfte. Die es mir nun auch ermöglicht, mit Freude und ohne Ungeduld die vielen kleinen motorischen Entwicklungsschritte zu sehen und mich mit meinen Kindern mit zu freuen in der Überzeugung, dass sie es vollkommen allein und ohne Unterstützung gelernt haben! So wertvoll für alle

  • {"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}

    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

    >